Sie schweben in wallenden Gewändern durch runde Klassenzimmer, spielen lieber Blockflöte als Computerspiele, klatschen Mathe-Formeln und tanzen ihren Namen: So lauten gängigen Vorurteile über Waldorfschüler. Wissenschaftliche Studien belegen indes, dass die auf Rudolf Steiner zurückgehende Pädagogik überaus erfolgreich ist.
"Es geht letztlich um den Leistungsbegriff", betont auch Dietrich Esterl, der zunächst an der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart Schüler und lange Zeit dort Lehrer war. "Wir versuchen, nicht irgendwelche willkürlich festgelegten Inhalte zu erreichen, sondern die Schüler sollen möglichst vielfältige Fähigkeiten entwickeln." Die Uhlandshöhe ist die erste Freie Waldorfschule überhaupt. Am 7. September 1919 wird sie eröffnet.
Zwei Idealisten als Gründerväter
Stifter der ersten Waldorfschule ist der Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, Emil Molt. Er will Bildungsschranken durchbrechen und den Kindern seiner Arbeiter eine zwölfjährige Bildung ermöglichen. Deshalb bittet er den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner, ein reformpädagogisches Konzept zu entwickeln und nach dessen Grundsätzen eine solche Fabrikschule einzurichten. Steiners Weltsicht zufolge lebt der Mensch in Einklang mit Natur und Kosmos. Auf dieser Idee basiert auch sein Lehrplan der Waldorf-Schule: Handeln, Denken und Fühlen gehören beim Lernen zusammen. Deshalb spielt auch die Musik eine so große Rolle. Und die von Steiner erdachte Bewegungslehre, die Eurhythmie.
Weltweit fast 1.200 Waldorfschulen
Bis heute ersetzen schriftliche Beurteilungen in Waldorfschulen die Noten, die Schüler bleiben nicht sitzen. Zwischen den Kindern sollen keine Unterschiede nach Herkunft oder Begabung gemacht werden. Zum Blockunterricht gehören: Musik, Theater, Tanz, bildnerisches und handwerkliches Gestalten, Fremdsprachen ab dem ersten Schuljahr sowie ein soziales und ein landwirtschaftliches Praktikum. Die angestellten Lehrer haben zusätzlich zur üblichen Ausbildung einen zweijährigen Waldorf-Lehrgang absolviert.
Die Privatschulen sind eine Art Kollektiv, das sich selbst verwaltet. Alle Lehrer bestimmen zusammen mit dem Elternrat das Gehalt, ob ein Gebäude gebaut oder eine Kollegin eingestellt wird. Die Eltern der Schüler zahlen Schulgeld, gestaffelt nach ihrem Einkommen.
Was Rudolf Steiner als reformpädagogisches Konzept entwickelt, gilt bis heute für alle der rund 1.200 Waldorfschulen in 66 Ländern – von Tokio bis zum Gaza-Streifen. Von Steiners rassistischer "Wurzelrassenlehre" allerdings haben sie sich inzwischen klar distanziert.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 7. September 2019 ebenfalls an die erste Freie Waldorfschule. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 08.09.2019: Vor 125 Jahren: Todestag des Physikers Hermann von Helmholtz