Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollen "Gastarbeiter" das bundesdeutsche Wirtschaftswunder auf Touren bringen: Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) will damit den drohenden Arbeitskräftemangel beseitigen. Die erste Vereinbarung über die Anwerbung von ausländischen Arbeitern schließt die Bundesrepublik 1955 mit Italien. Weitere Anwerbeverträge folgen. Im Juni 1961 sind in der Bundesrepublik bereits eine halbe Million ausländische Arbeiter im Einsatz: 200.000 Italiener, 48.000 Spanier sowie Griechen, Niederländer und Österreicher - die meisten von ihnen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.
Für die italienisch sprechenden "Gastarbeiter", die zu dieser Zeit aus technischen Gründen keine Radioprogramme aus Italien empfangen können, gibt es zunächst nur zwei Informationsquellen: Radio Prag und Radio Budapest - Sender aus dem Ostblock mit italienischen Programmen. Beide strahlen Berichte über Deutschland nach Deutschland aus. Die Nachrichten gelten im Westen aber als kommunistisch gefärbt - vor allem nach dem Mauerbau im August 1961. Das versetzt die Arbeitgeber in Unruhe. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, die sich um die "Gastarbeiter" kümmern, sind ebenfalls besorgt. Sie drängen die westdeutschen Rundfunkanstalten, eigene Sendungen für die "Gastarbeiter" auszustrahlen. Denn Sendungen aus Italien können damals aus technischen Gründen nicht empfangen werden.
Ansprechpartner für viele Familien
Die "Mezz' ora italiana", die italienische halbe Stunde des Saarländischen Rundfunks, ist am 21. Oktober 1961 das erste Ausländerprogramm der ARD. Die Sendung wird samstags von 19.00 bis 19.30 Uhr ausgestrahlt. Wenige Wochen später folgen der Bayerische Rundfunk und der WDR mit eigenen Sendungen. Neben Nachrichten, hauptsächlich über Italien und Deutschland, bieten die Sender auch Sprachkurse an. Bald wird ebenfalls auf Griechisch, Spanisch, Serbisch, Kroatisch und ab November 1964 zusätzlich auf Türkisch gesendet.
Die Moderatoren der Sendungen werden auch Ansprechpartner für viele Familien. Im WDR übernimmt der junge Jurist Giacomo Maturi, der selbst aus Norditalien eingewandert ist, den Kummerkasten für italienische Männer und Frauen, die in der Bundesrepublik leben. Rund 50.000 Briefe beantwortet er als Ratgeber in den 1960er und 1970er Jahren. "Ich kann mich an viele dramatische oder sogar tragische Fälle erinnern", so Maturi. "Die Sehnsucht nach der Heimat, die schlechten Wohnverhältnisse, die harte, ungewohnte Arbeit, die Unfallgefahren, die gähnende Leere in der Freizeit, die durch schlechte Ernährung und Klimabedingungen gefährdete Gesundheit."
Den Wecker gestellt
Auch bei den türkischen Arbeitern nehmen die Sendungen eine wichtige Rolle ein. "Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass mein Vater seinen Wecker gestellt hat", sagt Murad Bayraktar, der heute Redakteur der türkischen Sendung "Köln Radyosu" beim WDR-Radioprogramm "Funkhaus Europa" ist. "Mein Vater hatte einen Schneiderladen, da saßen manchmal Kunden oder Freunde." Wenn der Wecker dann geschellt habe, hätten alle still sein müssen - insbesondere die Kinder.
Satellitenschüsseln beenden in den 1990er Jahren diese Versammlungen mit süßem Tee um die Radiogeräte. Sie bringen türkisches Fernsehen in Wohnzimmer und Schneiderläden - und eine neue Perspektive. Türken betrachten ihre Situation aus dem Blickwinkel von Reportern aus Istanbul und Ankara. Ihre Frustration werde dadurch verstärkt, sagt WDR-Moderator Bayraktar. Bei türkischen Medien werde das Bild des unterdrückten Migranten immer wieder unterstrichen - anders als bei "Köln Radyosu" und anderen Fremdsprachensendungen, die heute bei "Funkhaus Europa" laufen. "Ich sehe unsere Aufgabe darin, das reelle Bild zu vermitteln und der Frustration entgegen zu wirken", sagt Bayraktar.
Stand: 21.10.2011
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