An den nordrhein-westfälischen Grundschulen ist die gute alte Schreibschrift heute out. In Zeiten von SMS und E-Mail müssen Erstklässler das Schreiben in der leichter erlernbaren Druckschrift üben. Noch müssen sie aber in NRW bis zum 4. Schuljahr auch die lateinische Schreibschrift mit verbundenen Buchstaben beherrschen, so will es das Schulministerium.
Der Verband der Grundschullehrer will die Schreibschrift als überholt aus dem Unterricht verbannen. Ihre Befürworter aus Politik und Kultur verteidigen sie als schutzwürdiges Kulturgut, das der Persönlichkeitsbildung dient. In einem ähnlichen Konflikt um die Werte einer Schrift entscheidet vor 100 Jahren der Reichstag in Berlin. Als Antiqua-Fraktur-Streit ist er in die Geschichte eingegangen.
Jahrhunderte lang zwei Schriften
Seit Ende des 19. Jahrhunderts kämpft ein "Verein für Altschrift" für die Abschaffung der altdeutschen Fraktur mit den gebrochenen Spitzbuchstaben. Sie erschwert Schülern das Lernen, Druckern wie Verlegern ihr Gewerbe und behindert, weil nur in Deutschland bekannt, die Kommunikation der boomendem Exportwirtschaft im Kaiserreich. Deshalb fordern die Schreibreformer 1911 in einer Petition an den Reichstag, "dass der erste Schreibleseunterricht ... mit der leichteren Antiqua beginne, der Unterricht in der schwereren Fraktur dagegen auf die späteren Schuljahre verschoben werde".
Entstanden ist die moderne Antiqua, die lateinische Schrift, um das 15. Jahrhundert herum, beinahe zeitgleich mit der Fraktur. Johannes Gutenberg entwirft als erste Satzschrift eine gebrochene; durch Luthers Bibel wird sie zur volkstümlichen Schrift. Albrecht Dürer dagegen verfasst das erste deutsche Buch über die runde Antiqua, die sich zur vorherrschenden Schrift in Europa entwickelt. Nur in Deutschland etabliert sich ein Nebeneinander beider Stile. So lässt etwa Goethe, wie die Gebrüder Grimm ein Verfechter der Antiqua, alle seine Werke auch in Fraktur drucken.
Tumulte im Reichstag
Ein Bonner Büroartikelhersteller löst schließlich 1881 den Antiqua-Fraktur-Streit durch die Gründung des "Vereins für Altschriften" aus. Friedrich Soenneckens Reformideen zugunsten der Antiqua rufen umgehend Gegner aus völkisch-nationalistischen Kreisen auf den Plan. Sie verdammen die Antiqua als "welsche" - also nicht-deutsche - Unterwanderung und sehen in der Fraktur den Geist des deutschen Volkes verwirklicht. Nach 20 Jahren Kulturkampf debattiert der Reichstag am 4. Mai 1911 lautstark über den Schriftenstreit. Zunächst stimmen die Abgeordneten der Reform-Petition zugunsten der Antiqua zu.
Die deutschtümelnden Frakturbefürworter leisten jedoch erbittert Widerstand. "Mit der Antiqua wird schon in die Seele des Kindes ein Missachten des Deutschtums hineingelegt", erregt sich ein konservativer Parlamentarier. Nach starkem öffentlichem Druck muss der Reichstag schließlich am 17. Oktober 1911 erneut über die Antiqua-Petition abstimmen lassen. Mit 75 Prozent der Stimmen wird sie abgelehnt. Erst 30 Jahre später verbannt Adolf Hitler die Fraktur in die Mottenkiste der Geschichte. Deutschland soll die Welt beherrschen. Eine Schrift, die die Welt nicht kennt, ist da nur hinderlich.
Stand: 17.10.2011
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