Eine blau-orangefarbene Pappkarte kann Leben retten
Der Kampf gegen den Mangel an Nieren beginnt im Norden. Im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf wurden seit März 1970 neun Menschen fremde Nieren eingepflanzt; nur eine stammte von einem Spender aus der Nähe Hamburgs, alle anderen mussten aus Skandinavien eingeflogen werden. Hamburg reagiert und gibt als erstes Bundesland ab dem 3. November 1971 Spender-Ausweise für Organtransplantationen aus. Die kleine Plastikkarte stellt eine rechtsverbindliche Einverständniserklärung dar: Im Falle des klinisch einwandfrei festgestellten Todes - nach einem Unfall etwa oder einem plötzlichen Herz- und Atemstillstand - dürfen Organe entnommen werden, zunächst nur Nieren. Bis heute wird das Organ am meisten gebraucht: Rund 12.000 Deutsche warten jährlich auf ein Spenderorgan – 8.000 von ihnen auf eine Niere. Doch nur 15 Prozent der Deutschen besitzen den heute orange-blauen Organspendeausweis aus Pappe. Auf eine Million Bürger kamen im Jahr 2010 kamen durchschnittlich 15,9 Organentnahmen.
Zustimmungslösung oder Entscheidungslösung?
Die Politik will die Bürger nun in die Entscheidungspflicht nehmen. Die Bundesregierung wirbt für die Organspende: "Jeden Tag sterben drei Menschen, die eine Organspende hätte retten können. Das sind ungefähr 1.000 Menschen im Jahr. Knapp 4.000 Transplantationen werden jährlich erfolgreich durchgeführt, doch es müssten viel mehr sein. Die Zahl der Spenderorgane ist nach wie vor deutlich geringer als die Zahl der Patienten auf der Warteliste." Spender ist, wer zu Lebzeiten mit einem Spenderausweis oder einem anderen Dokument seine Zustimmung gegeben hat. Oder wenn im Falle des Hirntods Angehörige die Entnahme erlauben. Diese sogenannte erweiterte Zustimmungslösung ist im Transplantationsgesetz aus dem Jahr 1997 festgeschrieben. Sowohl CDU-Fraktionschef Volker Kauder als auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier plädieren für die Entscheidungslösung. Jeder Bürger soll einmal im Leben gefragt werden, ob er seine Organe weitergeben möchte, zum Beispiel wenn er einen Personalausweis oder Führerschein beantragt. Die Widerspruchslösung, die bereits in 22 europäischen Ländern greift, gilt jedoch in Deutschland nicht als mehrheitsfähig: Sie besagt, dass ein Bürger, der seine Organe nicht spenden will, zu Lebzeiten ausdrücklich widersprechen muss.
Hirntote sind eher Sterbende als Tote
Die moderne Transplantationsmedizin stellt eine alte Frage neu: Wann ist ein Mensch tot? Seit den 1960er Jahren wird der Tod offiziell festgestellt, wenn der Hirntod eingetreten ist, das Erlöschen der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Er ist erst Voraussetzung für eine Organtransplantation. Apparate halten den Körper warm und durchblutet, der Atem fließt, das Herz schlägt. "Das macht die Hirntoten zu idealen Organspendern", erklärt Stephan Sahm, Medizinethiker und Chefarzt am Ketteler Krankenhaus in Offenbach. Beobachtungen zeigen jedoch, dass die Funktionen des Organismus, nicht nur eine Leistung des Gehirns sind. So könnten hirntote Frauen Kinder gebären, hirntote Kinder wachsen proportioniert, ihre Verdauung funktioniert und der Herzschlag passt sich dem Fieber an. Aktuelle Studien kommen zu dem Schluss: Bei Hirntoten handelt es sich eher um Sterbende als um Tote. Stephan Sahm: "Das Sterben ist ein Prozess. Wir sehen uns dazu genötigt, den richtigen Zeitpunkt des Todes festzulegen, weil wir die Organe wollen."
Stand: 03.11.2011
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