Als der 78-jährige Staatschef Walter Ulbricht im Mai 1971 entmachtet wird, erwartet vor allem die Jugend der DDR eine frische musikalische Brise in ihrem verknöcherten Staat. Sie setzt ihre Hoffnungen auf den neuen starken Mann, Ex-FDJ-Chef Erich Honecker, und auf die Weltfestspiele der Jugend und Studenten, zu denen 1973 mehr als 25.000 junge Menschen aus 140 Ländern nach Ost-Berlin kommen werden.
Zu dem Ereignis will Honecker die abgeriegelte DDR als weltoffene Kulturnation präsentieren, natürlich auch mit moderner Popmusik, die bislang noch vom Politbüro ganz klein gehalten wird. Damit Parteifunktionäre und Kulturverwalter mit den Musikschaffenden einen ebenso zeitgemäßen wie sozialistisch vertretbaren Kurs abstecken können, setzt das Politbüro für April 1972 eine Tanzmusik-Konferenz an.
Schluss mit Je-Je-Je
Wenige Jahre zuvor hatte die DDR-Führung Beat und Rock noch als gefährliche Störgeräusche des Klassenfeindes verdammt. Den Anlass lieferte 1965 ein chaotisches Konzert der Rolling Stones, bei dem die Berliner Waldbühne vollständig zu Kleinholz verarbeitet wurde. Von einem "Gemetzel der Gammler" schrieb die West-Presse – und war ausnahmsweise mal einer Meinung mit DDR-Chef Ulbricht und dessen Adlatus Honecker. "Genossen", ordnete Ulbricht danach im Politbüro an, "mit der Monotonie des Je-Je-Je (er meinte yeah, yeah, yeah) und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen."
Mit Ulbrichts Befehl beginnt in der DDR eine radikale Hetzjagd auf langhaarige Jugendliche; alle bis dahin geduldeten Beatbands werden verboten und das meist rockige Programm des DDR-Jugendsenders DT64 wird schärfstens zensiert. "Der schädliche Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt", erklärt Honecker und fügt hinzu: "Niemand in unserem Staat hat etwas gegen eine gepflegte Beatmusik." So gepflegt wie etwa der Lipsi. Der im offiziellen Staatsauftrag kreierte Hüpftanz soll den Jugendlichen die exzessiv-verderblichen West-Rhythmen verleiden, bringt es aber selbst in der DDR nur zur Lachnummer.
Kurzes musikalisches Tauwetter
Erst als Ende der 60er Jahre die Flower-Power-Welle auch über die Mauer schwappt, entstehen zahlreiche neue Bands wie die Puhdys oder die Klaus Renft Combo, die fortan die Rockszene der DDR prägen. Schlagerstar Frank Schöbel schafft es mit "Wie ein Stern" sogar in die bundesdeutsche Hitparade – sehr zur Freude von Vize-Kulturminister Werner Rackwitz, der am 24. April 1972 die Tanzmusik-Konferenz der DDR eröffnet. Solche Titel, erläutert Rackwitz in seiner Ansprache das gewandelte Musikverständnis der Partei, "entspringen dem Bedürfnis der Musikanten, sich … unmittelbar mitzuteilen, sich verständlich zu machen und erreichen insbesondere durch die oft unmittelbar aus dem Leben gegriffenen Texte und Bilder einen hohen Identifikationsgrad."
Doch das musikalische Tauwetter hält nicht lange an. Die Weltjugendspiele sind noch nicht vorüber, da warnt Erich Honecker im Mai 1973 bereits wieder vor Werken, "die dem Anspruch des Sozialismus an Kunst und Kultur entgegenstehen". Erstes Opfer der neuerlichen Kurswende ist die Renft-Combo, deren Lied "Ketten werden kürzer" gerade erst zur offiziellen Hymne des Jugendfestivals gekürt worden ist. Als die Band auf ihrem dritten Album über NVA-Bausoldaten und Republikflucht singt, lässt die Kulturobrigkeit 1975 kurzerhand verlautbaren: "Die Gruppe Renft ist als nicht mehr existent anzusehen." Ein Jahr später wird der Liedermacher Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Zahlreiche namhafte Künstler folgen ihm in den Westen.
Stand: 24.04.2012
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