Der 17 Jahre alte Herschel Grynszpan lebt seit zwei Jahren illegal in Paris. Anfang November 1938 erfährt der in Hannover geborene Sohn polnischer Juden, dass seine Familie aus Deutschland abgeschoben worden ist. Doch Polen will sie nicht aufnehmen. Wie rund 17.000 andere abgeschobene Juden sitzen die Grynszpans an der Grenze fest. Am 7. November 1938 kauft sich Herschel Grynszpan in Paris einen Revolver und fährt zur deutschen Botschaft. Dort gibt er fünf Schüsse auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath ab.
Zwei Tage später erliegt der Diplomat am Nachmittag seinen Verletzungen. In der selben Nacht kommt es im gesamten Deutschen Reich zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Synagogen werden in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte verwüstet, ihre Besitzer brutal misshandelt. Mehr als 400 Menschen werden getötet. Rund 30.000 werden verhaftet. Viele werden in ein Konzentrationslager deportiert oder in den nächsten Monaten zur Flucht gezwungen.
Juden müssen für ihre Diskriminierung bezahlen
Für die materiellen Schäden müssen in den nächsten Wochen und Monaten nicht die Täter, sondern die Opfer aufkommen. Die Juden werden gezwungen, die Spuren der Zerstörung zu beseitigen. Versicherungsgelder gehen nicht an die jüdischen Geschäftsinhaber, sondern an den Staat. Die Juden müssen in einen "Scherbenfonds" ein sogenanntes Sühnegeld einzahlen - für, so die offizielle Begründung, "die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk". Insgesamt fließt so über eine Milliarde Reichsmark in die Staatskasse.
Die Novemberpogrome werden im Berliner Volksmund verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet - ein Begriff, den die Nazis gerne übernehmen. Propagandaminister Joseph Goebbels erklärt die judenfeindlichen Aktionen als spontanen Ausbruch des "Volkszorns".
Nicht nur von oben gesteuert
Nach dem Zweiten Weltkrieg gilt lange eine andere Interpretation der Ereignisse: Adolf Hitler habe den Befehl gegeben, SA, SS und Gestapo hätten ihn ausgeführt, die Bevölkerung habe die Dinge ohnmächtig geschehen lassen. Noch 1978 behauptet NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) auf einer Kölner Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des 9. November: "Das deutsche Volk hat nicht die Hand an die Synagogen gelegt." Mittlerweile wissen Historiker: Die Verbrechen sind längst nicht nur von SS und SA, sondern auch von ganz normalen Deutschen verübt worden, auffallend häufig in kleineren Städten und Gemeinden.
Viele Aktionen waren nicht von oben gesteuert. Synagogen standen schon in Flammen, bevor der Befehl zur Brandstiftung ausgegeben wurde. Angriffe auf Juden und Verwüstungen von jüdischen Geschäften gab es bereits am 7. und 8. November, unmittelbar nach Bekanntwerden des Attentats auf Ernst vom Rath. In Österreich, seit dem Frühjahr 1938 Teil des Deutschen Reiches, gab es schon im Oktober solche Übergriffe. Juden wurden auch noch attackiert, als die Führung in Berlin - besorgt um den Ruf im Ausland - längst ein Ende der Ausschreitungen angeordnet hatte.
Stand: 09.11.2008
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 9. November 2008 ebenfalls an die Novemberpogrome in Deutschland. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.