Für die US-Amerikanerin Valerie Solanas sind Männer verantwortlich für das Leid und die Ödnis der Welt. "Kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren", schreibt die radikale Feministin Ende der 60er Jahre in ihrem "SCUM" (engl.: Abschaum) genannten Manifest. "Daher bleibt der aufgeklärten, verantwortungsbewussten Frau nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen und das männliche Geschlecht zu vernichten." Laut ihrem Verleger steht die Buchstabenfolge SCUM für "Society for cutting up men" (etwa: Gesellschaft für das Aufschlitzen von Männern) - was Solanas selbst nie bestätigt hat.
An Andy Warhol will Solanas ein Exempel statuieren. So jedenfalls wird sie es später der Polizei erklären. Am 3. Juni 1968 lauert sie dem Pop-Art-Künstler vor dessen New Yorker Atelier am Union Square auf und fährt mit ihm im Aufzug nach oben. Warhol kennt die Frau, die ihn schon einige Male besucht hat, und schöpft keinen Verdacht.
Oben angekommen zieht Solanas eine Beretta Kaliber 32 aus einer Papiertüte und schießt mehrmals auf Warhol. Als der Künstler vor Schmerzen schreiend am Boden liegt, weiß sie nicht, was sie weiter tun soll, und rennt nach draußen.
Als feministisches Hassobjekt nicht geeignet
Dass Solanas' Motive wirklich politischer Natur sind, ist eher zweifelhaft. Der bekennende Homosexuelle Warhol mit seinen stark femininen Zügen eignet sich nicht so recht als feministisches Hassobjekt. Vermutlich hat Solanas eher private Gründe. Es ist wohl vor allem die Enttäuschung darüber, dass sich der einflussreiche Künstler nicht für ihr Theaterstück stark gemacht hat, die Solanas zur Waffe greifen lässt.
Der schwer verletzte Warhol wird ins Krankenhaus gebracht. Sechs Minuten nach der Ankunft gilt er als klinisch tot. Einem Chirurgen gelingt es, Warhol wiederzubeleben. Fünfeinhalb Stunden wird der Künstler operiert; danach ist zunächst gänzlich ungewiss, ob er die Nacht übersteht. Warhol überlebt und wird nach rund zwei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen. Danach ist er ein anderer Mensch – und bleibt sich und seiner Kunst dennoch treu.
Berühmt für fünfzehn Minuten
Nach der Operation habe er ausgesehen "wie ein Kleid von Yves-Saint-Laurent: lauter Nähte", wird Warhol später, halb ironisch, sagen. In Wirklichkeit leidet er psychisch wie physisch stark unter den Folgen des Attentats. Zeit seines Lebens hat er Angst vor weiteren Überfällen. Dass sein Körper von Operationsnarben entstellt ist, belastet ihn. Und er muss wegen der Schmerzen ein Korsett tragen, das er konsequenterweise bei Porträts von sich im Sinne seiner kommerziellen Kunstvorstellung vermarktet.
Das Attentat macht aus dem Kunststar Warhol dank erhöhter medialer Aufmerksamkeit einen Superstar. Die Preise seiner Bilder steigen. Solanas hingegen wird wegen Körperverletzung, illegalen Waffenbesitzes und versuchten Mordes zu drei Jahren Haft verurteilt und kommt in die Psychiatrie. Getreu dem Warholschen Bonmot, dass jeder Mensch für fünfzehn Minuten berühmt sein könne, taucht ihr Name eine Zeit lang in der Presse auf, ihr "SCUM"-Manifest wird 1969 sogar auf Deutsch publiziert. Dann aber ist es mit dem Ruhm zu Ende. Solanas stirbt 1985 in einem Obdachlosenasyl in San Francisco.
Stand: 03.06.2013
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