Sozialdemokrat August Bebel im Reichstag während Debatte zum Sozialistengesetz 1878 (zeitgenössische Xylografie)

Stichtag

19. Oktober 1878 - Reichstag verabschiedet Sozialistengesetz

Deutschland 1871: Frankreich ist besiegt, die Nation im Kaiserreich geeint. Dennoch ist Reichskanzler Otto von Bismarck besorgt. Für ihn ist die neue Bewegung der Sozialdemokraten eine revolutionäre Gefahr für die bestehenden Verhältnisse. August Bebel, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), hat im Reichstag gedroht, "dass, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats 'Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange' der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird." Zwar handelt es sich dabei um "pure Rhetorik", wie Geschichtsprofessor Wilfried Loth von der Universität Essen sagt. Es habe den Sozialdemokraten an Anhängern und einer revolutionären Strategie gefehlt. "Aber Bismarck hat sich über diese Ankündigung doch sehr erschrocken."

Der "Eiserne Kanzler" befürchtet Zustände wie in Frankreich. Denn nach der Niederlage der französischen Armee gegen die Deutschen hatte das Pariser Proletariat 1871 mit seiner Stadtregierung, der sogenannten Commune, einen Aufstand gegen die französische Nationalversammlung gewagt. Dort konnte sich das reguläre Militär nur mit einem Blutbad behaupten. Bedrohlich für Bismarck wirkt 1873 auch eine schwere Wirtschaftskrise, die zu einer größeren Streikbereitschaft der Arbeiter führt. Deshalb versucht er, die Sozialdemokraten mit einem "Vernichtungskrieg durch Gesetzesvorlagen" zu überziehen. Sein Problem: Die Nationalliberalen sträuben sich gegen seine Knebelungspolitik. 1874 verweigern sie die Zustimmung zu einem Pressegesetz, das sozialdemokratische Parolen verbieten soll. Auch als Bismarck zwei Jahre später öffentliche Angriffe auf Eigentum, Ehe und Familie unter Strafe stellen will, sperren sie sich.

Gesetzgeber lässt Schlupfloch

Erst nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm 1877 ändert sich die Lage. Bismarck nutzt die Empörung in der Bevölkerung, löst den Reichstag auf und führt Wahlkampf mit der Parole "Für ein Sozialistengesetz". Auch wenn die Sozialdemokraten mit den Attentaten nichts zu tun haben, erhält Bismarck bei den Wahlen so viel Zustimmung, dass er sein Vorhaben umsetzen kann - mit Unterstützung der Deutschkonservativen Partei und den Nationalliberalen. Am 19. Oktober 1878 beschließt der Reichstag das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". In Paragraf eins werden Vereine, die "sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen" bezwecken, verboten. Auch sozialistische Parteien, Organisationen und Druckschriften sowie politischer Versammlungen werden untersagt.

Trotzdem lässt der Gesetzgeber ein Schlupfloch offen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten dürfen weiter kandidieren - wenn auch ohne Wahlkampf. "Das Kaiserreich war keine Diktatur", erklärt Historiker Loth die Paradoxie. "Es war aber auch keine parlamentarische Demokratie, sondern eine sehr komplexe Mischform zwischen Obrigkeitsstaat und parlamentarischer Mitwirkung." Zunächst ist die Gültigkeit des Sozialistengesetzes auf drei Jahre begrenzt. Doch Bismarck boxt mehrfach Verlängerungen durch. Die Sozialdemokraten organisieren sich derweil in neuen Arbeitervereinen, die sich als "Schafskopf-", "Kegel-" oder "Pfeifenclub" tarnen. "Bismarck hoffte, durch eine Verschärfung der Gesetze die Sozialdemokratie in die Knie zwingen zu können", so Loth. "Aber dazu war die Mehrheit im Reichstag nicht mehr bereit." Nach zwölf Jahren Gültigkeit wird das Sozialistengesetz vom Reichstag schließlich 1890 gekippt. Wenig später wird Bismarck vom neuen Kaiser Wilhelm II. wegen Meinungsverschiedenheiten entlassen.

Insgesamt fast 1.000 Jahre Gefängnis

"Im Laufe dieser Jahre sind - unter der Herrschaft des Ausnahmegesetzes - 155 periodische Druckschriften verboten worden", so die Bilanz von SPD-Führer August Bebel. "Ausweisungen sind nah an 900 erfolgt. Das Gesamtmaß der Freiheitsstrafen beläuft sich auf nahe an 1.000 Jahre Gefängnis." Dennoch habe die Sozialdemokratie in den letzten Jahren des Sozialistengesetzes immer mehr Anhänger gewonnen, so Historiker Loth. "Die Jahre des Verbots sind gleichzeitig die Jahre des Durchbruchs der Industriellen Revolution, das heißt, es gab gleichzeitig immer mehr Menschen, die für die sozialdemokratischen Ideen und Programme ansprechbar waren."

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges stellen die Sozialdemokraten schließlich die mit Abstand größte Partei im Reichstag - mit 35 Prozent der Stimmen. Wobei die SPD damals, sagt ihr ehemaliger Bundesentwicklungsminister Erhard Eppler rückblickend, stets mit demselben ausgemachten Dilemma zu kämpfen hatte: "Die Rhetorik war immer revolutionär." Die Praxis hingegen sei bestenfalls reformistisch gewesen. Und so habe die SPD mit ihrer Rhetorik "das bürgerliche Lager abgestoßen - und mit ihrer Praxis häufig die Arbeiterschaft, die dann zu der kommunistischen Partei gelaufen ist."

Stand: 19.10.2013

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