Niederlande: Gesetz zur Einführung eines Mindestlohns verabschiedet

Stichtag

27. November 1968 - Mindestlohn wird in den Niederlanden eingeführt

Die Wirtschaft nimmt nach dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden schnell Fahrt auf. Die Fabriken sind ausgelastet, ob bei dem Elektronikhersteller Philipps oder dem Mineralölkonzern Shell. Ein Großteil der Waren wird von Rotterdam aus in alle Welt verschifft. Viele Beschäftigte haben wenig von dem Aufschwung: Sie verdienen bescheiden. Oft geht ihren Familien vor Monatsende das Geld aus. Eine Besserung ist nicht in Sicht, denn damals kontrolliert der niederländische Staat die Lohnpolitik. Die Politiker halten die Löhne bewusst niedrig, um die Exportindustrie zu fördern. Andere europäische Staaten kritisieren die Niederlande dafür. In den Sechziger Jahren wehren sich die Arbeiter endlich. "Sie haben angefangen zu streiken, oft auch wild zu streiken, zum Teil gegen die Gewerkschaftsführung. Sie sind einfach auf die Straße gegangen, um zu sagen: Wir wollen höhere Löhne und wir wollen sie vor allem frei aushandeln", sagt Thorsten Schulten, Arbeitsmarktexperte beim gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut WSI.

Mindestlohn hat lange Tradition

Der Arbeitskampf ist erfolgreich. Die Niederlande führen ein System freier Lohnverhandlungen und einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns ein. Am 27. November 1968 verabschiedet das Parlament das Gesetz. Die Politiker knüpfen an eine Tradition an. 1894 hatten die Stadtväter von Amsterdam bereits per Dekret einen Mindestlohn eingeführt. Er galt für die eigenen Beschäftigten und alle Firmen, die Aufträge für die Stadt erledigen. Viele Gemeinden waren dem Beispiel Amsterdams gefolgt. Sechs Jahrzehnte später entscheidet sich die niederländische Regierung dann für einen allgemeinen gesetzlich Mindestlohn, der landesweit für alle Beschäftigten gilt.

Blumen, Zeitung und Kuchen

Eine Kommission klärt, wie viel Geld eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern monatlich benötigt, um ein anständiges Leben führen zu können. Jede Familie soll sich Blumen auf dem Tisch leisten können, eine Tageszeitung, regelmäßig Kaffee und Kuchen, und ab und zu auch ein Bier. Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften einigen sich auf einen Mindestlohn von 144 Gulden pro Woche. "In den 70er-Jahren gab es zunächst eine Periode, in der der Mindestlohn sehr stark angestiegen ist, zum Teil sogar über den Durchschnitt der Lohnentwicklung", sagt der Arbeitsmarktexperte Schulten. Aber es gibt auch Jahre, in denen der Mindestlohn real – also abzüglich der Inflationsraten – sinkt, kürzlich zum Beispiel während der Wirtschaftskrise. Mit einem Mindestlohn von 9,01 Euro pro Stunde gehören die Niederlande neben Luxemburg, Frankreich und Belgien trotzdem zu den vier Ländern in Europa mit dem höchsten Mindestlohn.

Lohndumping heute in Deutschland?

Trotz der Erfolge im Nachbarland gibt es ihn in Deutschland noch nicht. Selbst die Gewerkschafter haben – vor allem aus Angst vor staatlicher Lohndrückerei – lange einen Mindestlohn abgelehnt, auch der langjährige Vorsitzende der IG Bau, Klaus Wiesehügel. "Ein von der Politik festgelegter Mindestlohn würde nur den Interessen der Arbeitgeber entsprechen. Gewerkschaften können dem Druck der Lobbyisten besser widerstehen", sagt er einmal im Deutschlandfunk.

Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile fordern Wiesehügel und fast alle anderen Gewerkschafter einen Mindestlohn, auch bei den Parteien steht das Thema im Programm. Der Bedarf ist groß: Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet in Deutschland im Niedriglohnsektor, genauso viele wie in den USA. In Frankreich sind es dagegen nur halb so viele. Die Niedriglöhne locken Firmen an, beispielsweise lassen immer mehr Betriebe aus dem benachbarten Ausland in Deutschland schlachten. Heute muss sich Deutschland von manchen Nachbarländern den Vorwurf des Lohndumpings gefallen lassen, wie früher die Niederlande in der Nachkriegszeit.

Stand: 27.11.2013

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