16. März 1968, der Vietnamkrieg ist seit fast vier Jahren im Gang: In den Morgenstunden umzingeln Soldaten einer US-Infanteriedivision das südvietnamesische Dorf My Lai. Es liegt 650 Kilometer nördlich von Saigon an der Grenze zu Nordvietnam. Hier sollen sich Angehörige des Vietcongs, der kommunistischen Widerstandsbewegung Südvietnams, verstecken. Als der Befehl zum Angriff kommt, wollen viele Soldaten der "Charlie Company" Rache. Seit Wochen kämpfen sie sich sieglos durch den Dschungel und verlieren Kameraden durch versteckte Fallen.
Doch statt feindliche Kämpfer finden die Amerikaner in My Lai nur alte Männer, Frauen und Kinder. Trotzdem werden die Zivilisten niedergemetzelt. Frauen werden vergewaltigt, Hütten in Brand gesteckt, Leichen geschändet. Rund vier Stunden später sind über 500 Dorfbewohner tot. "Das Schwerste ist, mit dem Töten anzufangen", sagt später Varnado Simpson, einer der US-Soldaten, die am Massaker beteiligt waren. "Aber dann wird es einfacher, die nächste Person zu töten und die nächste und so weiter. Ich habe dabei nichts gefühlt, überhaupt nichts. Ich habe einfach nur getötet."
Gräueltaten an Frauen, Kindern und Babys
In My Lai ist auch ein Armeefotograf anwesend: Ronald Haeberle macht Bilder der Gräueltaten - in Schwarz-Weiß mit einer Armeekamera und in Farbe mit seiner eigenen. "Ich war bei einer Gruppe GIs, die umzingelten die Dorfbewohner", sagt er später. "Da war ein Mädchen, außer sich, und eine ältere Frau, die ein kleines Kind beschützte. Die ältere Frau flehte die Soldaten an. Eine andere hielt ein kleines Baby. Ich habe dann Fotos gemacht." Er habe gedacht, die Menschen würden nur befragt. "Aber als ich mich umdrehte und wegging, hörte ich Schüsse."
Die Öffentlichkeit in den USA bekommt von alledem lange nichts mit. Der Journalist Seymour Hersh hört im Herbst 1969 erstmals von My Lai. Soldat Paul Meadlo ist einer seiner ersten Interviewpartner. Auch er hat im Blutrausch um sich geschossen. Hersh bleibt vor allem Meadlos Mutter in Erinnerung, die entsetzt ist über die US-Army: "Ich habe ihnen einen guten Jungen gegeben und sie haben mir einen Mörder zurückgebracht." Hersh hat bald alle Fakten zusammen. Er veröffentlicht seine Recherchen im November 1969 in kleineren Zeitungen. Die großen Blätter winken erst einmal ab. "Auf der einen Seite waren die amerikanischen Medien in dieser Zeit, wie auch heute wieder, sehr patriotisch", sagt Politikwissenschaftler Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung. "Zum Zweiten war man auch sehr reserviert, weil man Zweifel hatte, ob diese Berichte tatsächlich zutreffen."
Der einzige Verurteilte ist bald wieder frei
Das ändert sich, als die drastischen Bilder von Fotograf Haeberle veröffentlicht werden. Nun wird eine lückenlose Aufklärung versprochen. Eine Untersuchungskommission findet laut Politikwissenschaftler Greiner heraus, dass My Lai gezielt "auf der Ebene der dort eingesetzten und verantwortlichen Divisionskommandeure" vertuscht wurde. Doch davon wollen weder die Regierung um US-Präsident Richard Nixon noch die Army etwas wissen. Der Skandal wird bagatellisiert. Im Eilverfahren kommen lediglich zwei Kommandeure vor Gericht. Nur einer wird verurteilt, und auch er ist nach wenigen Monaten wieder frei.
Doch das Kriegsverbrechen markiert den Anfang vom Ende des Vietnamkriegs. Es bestätigt die Kritik der amerikanischen Friedensbewegung und trägt zu einem Stimmungsumschwung in der US-Bevölkerung bei. Die wenigen Überlebenden von My Lai sind bis heute schwer traumatisiert. Die am Kriegsverbrechen beteiligten US-Soldaten wiederum leiden teilweise ebenfalls - an ihren eigenen Taten. "Es gibt mehr Zerstörungswut in meinem Kopf als Güte", sagt Varnado Simpson rückblickend. "Der Wille zu töten und zu verletzen ist stärker als der Wille, zu lieben und zu sorgen. Ich lasse niemanden an mich heran. Das hat My Lai aus mir gemacht."
Stand: 16.11.2014
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