Stillgelegte Schienen: So viel Potenzial schlummert in NRW
Stand: 01.05.2023, 06:00 Uhr
Mit dem 49-Euro-Ticket durch NRW fahren - für viele keine Option. Es fehlt der Zugang zum Bahnnetz. Wie das Wiederbeleben von stillgelegten Schienen helfen kann.
Von Rainer Striewski und Till Hafermann (Grafiken)
Besonders auf dem Land kennen viele das Problem: Der nächste Bahnhof ist oft alles andere als nah - wenn denn überhaupt einer vorhanden ist. Selbst einige größere Städte in NRW sind nicht ans Schienennetz angeschlossen: In Bergkamen etwa mit seinen knapp 49.000 Einwohnern hält kein einziger Zug. Auch in Würselen, Niederkassel oder auch Kamp-Lintfort mit ihren jeweils knapp 40.000 Einwohnern - kein Halt.
Rund 600 Kilometer Bahnstrecken wurden seit 1994 in NRW stillgelegt. Als Gründe nennen Verkehrsexperten in erster Linie den einseitigen Ausbau der Straßeninfrastruktur in den vergangenen Jahrzehnten, also den Fokus auf das Auto. Infolgedessen fuhren immer weniger Menschen mit der Bahn, sodass das Angebot immer weiter ausgedünnt wurde - mit der Folge, dass die Bahn für die wenigen Fahrgäste noch unattraktiver wurde.
Verkehrswende nur mit der Bahn
Zudem wurde oft am falschen Ende, nämlich der Infrastruktur, gespart: "Häufig entscheiden einzelne marode Brücken oder unsichere Bahnübergänge über die Stilllegung kilometerlanger Abschnitte", erklärt Dr. Bastian Kogel vom Verkehrswissenschaftlichen Institut der RWTH Aachen.
Doch die Zeiten ändern sich. Mittlerweile ist vielen klar: Eine Verkehrswende ohne Bahn - das geht nicht. Statt über Streckenstilllegungen denken heute viele über die Reaktivierung alter Strecken nach. Doch das klingt einfacher, als es oft ist.
Wie viele Strecken können in NRW reaktiviert werden?
Sollen Strecken reaktiviert werden, ist erstmal viel Papierarbeit nötig - in Kurzform:
- Seit der Bahnreform Mitte der 1990er Jahre sind die Bundesländer für den Nahverkehr auf der Schiene zuständig.
- NRW hat Zweckverbände damit beauftragt, den Schienenverkehr zu organisieren: den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR), den Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) und go.Rheinland.
- Sollen Strecken reaktiviert werden, müssen über diese Verbände erst Machbarkeitsstudien beauftragt werden, Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchgeführt, Finanzierungsanträge gestellt und die Planung der nötigen Infrastruktur angestoßen werden.
Und so wurde auch schon was bewegt: Immerhin 223 Schienenkilometer wurden in den vergangenen 30 Jahren in NRW wieder reaktiviert. 200 Kilometer sollen nach den Planungen des Verkehrsministeriums in den kommenden Jahren noch hinzukommen.
Aber wer kümmert sich um so eine Wiederbelebung einer Bahnstrecke? Oft kommt der Anstoß von kleinen Initiativen - wie beispielsweise in Wiehl. Dort setzt sich ein Förderverein bereits seit 25 Jahren für die Reaktivierung der sogenannten "Wiehltalbahn" ein. Und das mit zunehmendem Erfolg. Im März konnte die Trasse zwischen Osberghausen und Wiehl freigegeben werden, allerdings nur für Sonderfahrten.
Wiehltalbahn soll reaktiviert werden
Das Ergebnis der Machbarkeitsstudie zur Reaktivierung der ganzen Strecke steht noch aus. Aber das Potenzial ist offenbar groß: Nach Schätzungen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) könnten 63.333 Einwohner in NRW mit der Wiehltalbahn erreicht werden - darunter auch die Einwohner von Waldbröl.
Jahrzehntelanger Einsatz zahlt sich aus
Mit einzelnen Sonderfahrten wie in Wiehl hatte auch in Düren alles angefangen. Mittlerweile ist dort die Reaktivierung bereits abgeschlossen, zwischen Düren und Euskirchen verkehrt nun wieder eine Bahn im Regelbetrieb. Das Projekt gilt als Blaupause für andere Reaktivierungen.
Dass die Bahn hier wieder fährt, ist vor allem Hansbert Schruff und seinen Mitstreitern zu verdanken. Mehr als 20 Jahre haben sie sich im Verein "IG Rurtalbahn" für die Reaktivierung der sogenannten "Bördebahn" eingesetzt - mit vielen Höhen und auch Tiefen. Mehrmals drohte das Projekt an den Kosten zu scheitern.
Von der Sonntagsbahn in den Regelbetrieb
Dabei war die Ausgangslage gut, denn zumindest die Schienen waren auf der Strecke noch vorhanden, sie wurden nur nicht mehr befahren. Der Verein begann, Sonderfahrten auf den Schienen zu organisieren, damit sie nicht abgerissen wurden. Die Züge mietete der Verein von der Rhein-Sieg-Eisenbahn, finanziert wurden die Fahrten durch Fahrkartenverkäufe und Brötchenverkauf im Zug.
Zunächst musste Hansbert Schruff den Bahnübergang selber sichern.
Besonders schnell war die Verbindung damals allerdings noch nicht: Da die Strecke nicht mehr regulär in Betrieb war, mussten alle Bahnübergänge manuell gesichert werden. Vor jedem Übergang musste der Zug anhalten, ein Helfer aus dem Zug springen, die Autos warnen - und nach der Überfahrt wieder in den Zug steigen. "Und das an jedem Bahnübergang auf der Strecke", erinnert sich Hansbert Schruff.
Glücksfall Landesgartenschau
Als der Nationalpark Eifel gegründet wurde, konnten Schruff und seine Mitstreiter den Zweckverband von der Idee überzeugen, sonntägliche Nationalparkfahrten von Düren über Euskirchen nach Schleiden zu finanzieren. Doch als Berlin die Zahlungen an die Zweckverbände kürzte, stand der Verein wieder ohne Finanzierung da. Wagenmiete, Fahrer und Trassengebühr schlugen mit 40.000 Euro jährlich zu Buche.
"Dann kam es zum Glücksfall, dass in Zülpich die Landesgartenschau stattfand", erinnert sich Hansbert Schruff. Wieder organisierte der Verein sonntägliche Fahrten nach Zülpich - und kam so auf stattliche 13.000 Fahrgäste im Jahr.
Seit diesem Jahr fährt die Bördebahn, deren Betrieb mittlerweile von der Rurtalbahn übernommen wurde, ganz regulär und im Stundentakt. Der Bahnübergang in Elsig, den Schruff und seine Mitstreiter lange selbst gesichert hatten, ist mittlerweile mit einer automatischen Schrankenanlage ausgestattet.
Direkte Anbindung von Aachen und Bonn in Sicht
Bald schon soll die Rurtalbahn von Euskirchen bis nach Bonn durchfahren. Dann wäre eine direkte Anbindung zwischen Aachen und Bonn möglich. Der aktuell nötige Umweg über Köln würde dann entfallen. "Das entlastet dann ja auch den Knoten Köln", erklärt Schruff. So haben neue Verbindungen in der einen Region auch immer Auswirkungen auf andere Regionen - im besten Fall entlasten sie das Schienennetz dort.
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Sorgen und Ängste bei Anwohnern
Nicht alle sind angesichts der Auswirkungen reaktivierter Bahnstrecken begeistert. In Münster etwa kämpft eine Initiative nicht für, sondern gegen die Reaktivierung der Bahnstrecke zwischen Münster und Sendenhorst. Michael Eßer wohnt an der alten Strecke. Als er im Jahr 2005 hier einzog, fuhr zwar einmal täglich ein Güterzug langsam vorbei. "Ausdrücklich wurde aber verneint, dass es hier noch einmal Personenverkehr geben würde", erinnert er sich.
Michael Eßer wehrt sich
Wenn er gewusst hätte, dass hier einmal wieder Personenzüge fahren sollten, hätte er das Haus gar nicht erst gekauft. Derzeit läuft für das Projekt noch das Planfeststellungsverfahren, verhindern kann er die Reaktivierung aber wohl nicht mehr.
Vernetzung von Bahn und Bus
Kritische Stimmen von Anwohnerinnen und Anwohnern kennt auch Hansbert Schruff. "Man muss natürlich alle Sorgen ernst nehmen", erklärt er. Vor allem dürfe man nicht den Fehler machen, nur auf die reaktivierte Bahnstrecke zu schauen.
Ganz in diesem Sinne hat er auch schon sein nächstes Projekt ausgewählt: die Reaktivierung der Strecke von Linnich bis Hückelhoven-Baal. Mit diesem Lückenschluss soll dann eine Querverbindung zwischen den beiden Hauptstrecken Köln und Aachen sowie Aachen, Mönchengladbach und Düsseldorf geschaffen werden.
Endstation (noch) in Linnich
Allerdings wird hier vorerst niemand mit Sonderfahrten wie bei der Börde- oder Wiehltalbahn für die Strecke werben können, denn die Strecke existiert gar nicht mehr. In Linnich führen die alten Gleise mittlerweile ins Nichts, die Strecke muss erst neu errichtet werden.
Land investiert vier Milliarden
Die Chancen dafür stehen gut, denn das Land NRW hat die Strecke in seine "Zielnetzkonzeption 2032/2040" aufgenommen. Darin stehen 336 Einzelmaßnahmen, die bis zum Jahr 2040 umgesetzt werden sollen. Dafür stellt das Land bis zum Jahr 2032 rund vier Milliarden Euro bereit.
Krischer: "Das muss deutlich schneller gehen."
Zu den Maßnahmen gehören neben Reaktivierungen von alten Strecken auch der Aufbau neuer S-Bahn-Netze oder die Elektrifizierung vorhandener Strecken. "Wir wollen ja mehr Menschen auf die Schiene in die Züge holen", betont NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) im WDR. Es könne nicht sein, dass die Reaktivierung einer Bahnstrecke 20 Jahre dauere. "Das kann und das muss deutlich schneller gehen."
Verkehrsminister sieht überall "Erfolgsprojekte"
Immerhin sollen ja in den kommenden Jahren noch 200 Schienenkilometer wiederbelebt werden: neben der Strecke von Münster nach Sendenhorst oder von Linnich nach Hückelhoven-Baal auch die sogenannte Ratinger Weststrecke oder die Teutoburger Wald-Eisenbahn von Harsewinkel nach Verl.
"Es gibt natürlich auch Bahnstrecken, wo sich das nicht mehr lohnt", erklärt Verkehrsminister Krischer. Aber überall dort, wo Strecken reaktiviert wurden, könne man feststellen:
Über das Thema berichtet der WDR am 27.04.2023 auch im WDR 5 Morgenecho und in der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.
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