Ein gesunder Backenzahn, der beim Ziehen eines Weisheitszahns beschädigt wird und deshalb entfernt werden muss. Dellen am Bauch nach fehlerhaft durchgeführter Fettabsaugung. Ein Bruch des Unterarms, der auf dem Röntgenbild nicht erkannt wurde. Das sind nur drei Beispiele von vielen, in denen möglicherweise ärztliche Behandlungsfehler vorlagen.
Jeder vierte Verdacht bestätigt
Im vergangenen Jahr wurden vom Medizinischen Dienst (MD) in Deutschland 12.438 Gutachten erstellt, um zu klären, ob Behandlungsfehler vorliegen. Das Ergebnis: Jeder vierte Verdacht auf einen medizinischen Fehler bei der Behandlung wurde bestätigt. Das geht aus der jährlichen Statistik hervor, die der MD am Donnerstag vorstellte.
Die Gutachter stellten in 3.160 Fällen ärztliche Behandlungsfehler mit gesundheitlichen Schäden für Patienten fest. In 2.679 Fällen war der Fehler auch Ursache für den Schaden - nur dann haben Patienten laut Angaben des MD Aussicht auf Schadensersatz.
In NRW gibt es zwei Medizinische Dienste, die mögliche Behandlungsfehler untersuchen: Im Gebiet Nordrhein und im Gebiet Westfalen-Lippe. In Westfalen-Lippe gab es 724 Gutachten, bei denen in 15,2 Prozent der Fälle Fehler nachgewiesen wurden. Im Gebiet Nordrhein waren es 1.235 Gutachten. Hier wurden in 25,7 Prozent der Fälle Fehler nachgewiesen.
Hohe Dunkelziffer: 17.000 vermeidbare Todesfälle im Jahr?
Die Zahlen bewegen sich in etwa auf dem Niveau des Vorjahres. Allerdings muss man von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgehen, da viele Behandlungsfehler nicht erkannt oder nicht angezeigt werden.
"Fachleute gehen davon aus, dass es in etwa einem Prozent aller stationären Behandlungen zu Fehlern und vermeidbaren Schäden kommt", sagte der MD-Vorstandsvorsitzende Stefan Gronemeyer. "Demnach sind jedes Jahr 168.000 Patientinnen und Patienten davon betroffen. Die Experten gehen von ca. 17.000 fehlerbedingten, vermeidbaren Todesfällen aus." In den vom MD begutachteten Fällen endeten Behandlungsfehler im vergangenen Jahr 75 Mal tödlich.
"Never Events": Frau wurde versehentlich sterilisiert
Besonderer Augenmerk bei der Auswertung liegt auf den so genannten "Never Events". Das sind Ereignisse mit Schäden für die Patienten, die eigentlich nie passieren dürfen. Dazu gehören schwerwiegende Fehler bei der Verabreichung von Medizin, Fremdkörper, die nach einer Operation unbeabsichtigt im Körper zurückbleiben oder die Verwechslung von Körperteilen, Organen oder Patienten. So wie der Fall einer 39-Jährigen, den der MD schildert: Die Frau sollte wegen einer Zyste operiert werden, allerdings wurde versehentlich eine Sterilisation durchgeführt.
Meldepflicht für schwere Vorfälle gefordert
Laut Ansicht von Medizinern ist die Analyse, wie es zu "Never Events" kommt, besonders wichtig, um Sicherheitsmaßnahmen zu erkennen, umzusetzen und zu bewerten. Seit Jahren fordert der MD daher eine Meldepflicht für solche schweren Vorfälle, wie es sie in vielen anderen Ländern schon gibt. "Hier ist nach wie vor die Politik gefordert, international anerkannte Konzepte zur systematischen Fehlervermeidung auch für Patientinnen und Patienten in Deutschland umzusetzen", sagte Gronemeyer.
Was tun, wenn ich einen Behandlungsfehler vermute?
Wer glaubt, dass bei der eigenen medizinischen Behandlung ein Fehler passiert ist, kann sich an seine gesetzliche Krankenkasse wenden. Diese schaltet dann gegebenenfalls den Medizinischen Dienst ein, um den Fall zu klären. Das Gutachten, das erstellt wird, ist kostenfrei. Auch die Ärztekammern sind Ansprechpartner, wenn man einen Behandlungsfehler vermutet. Dort gibt es oft Schlichtungsstellen, an die man sich wenden kann.
Patientenvereinigung beklagt: "Fehlerkultur nicht existent"
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte den Umgang mit Fehlern in der Medizin scharf. "Patientinnen und Patienten werden hierzulande im Stich gelassen. Denn eine Fehlerkultur in Praxen und Pflegeheimen ist nicht existent", äußerte der Vorstand der Stiftung, Eugen Brysch.
Das Bundesgesundheitsministerium teilte hierzu mit, Kliniken und Praxen seien bereits gesetzlich verpflichtet, Fehlermeldesysteme umzusetzen. "Sowohl im vertragsärztlichen Bereich als auch in Krankenhäusern verdeutlichen Auswertungen einen hohen Umsetzungsstand von Fehlermanagement und Fehlermeldesystemen", heißt es laut dpa aus dem Ministerium.
Personalmangel und wirtschaftliche Zwänge bei Medizinern
Behandlungsfehler ganz auszuschließen, dürfte unmöglich sein. Allerdings gibt es äußere Umstände, die die Fehleranfälligkeit erhöhen: Lange Schichten unter großem Stress, Personalmangel, wirtschaftliche Zwänge in den Kliniken und Praxen - wer sich unter Medizinern umhört, stößt immer wieder auf diese Punkte.
Die Belastung in den Kliniken sei enorm, bestätigt Antonius Schneider vom Institut für Allgemeinmedizin der TU München: "Eine Vollzeitkraft in der Klinik arbeitet nicht selten 50 oder 60 Stunden pro Woche", sagte er dem ZDF.
Unter dem Personalmangel leiden oft gerade die jungen Ärztinnen und Ärzte. Mediziner im Praktischen Jahr (PJ) bekämen oft nicht genug Anleitung und Unterstützung bei der Ausbildung. Laut einer Umfrage der Ärztegewerkschaft Marburger Bund haben 77 Prozent der befragten PJ-ler demnach schon ärztliche Kernleistungen ohne Anleitung ausgeführt.
Viele PJ-ler seien zudem überfordert durch das große Lernpensum, manche müssten aufgrund der niedrigen Bezahlung zudem noch Nebenjobs annehmen: "Das kann patientengefährdend sein, weil man übermüdet und überlastet ist", sagte die Assistenzärztin Lisa Suchner dem WDR.
Lauterbach: 50.000 Mediziner zu wenig ausgebildet
Dass sich die Personalsituation in Zukunft entspannt, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: So gut wie alle Ärztebünde und -vereinigungen klagen über zu wenig Personal. Zwar gibt es laut Gesundheitsministerium in Deutschland derzeit knapp 430.000 Ärztinnen und Ärzte. Allerdings ist mit Blick auf die demografische Entwicklung klar: Der Bedarf wird in noch weiter Zukunft wachsen. Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wurden in den vergangenen zehn Jahren 50.000 Ärztinnen und Ärzte zu wenig ausgebildet.
Unsere Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa
- Online-Artikel auf ZDF.de
- Bundesgesundheitsministerium
- Medizinischer Dienst