Die deutsche Verteidigungspolitik steht vor großen Herausforderungen - und das sehen viele Menschen so: Laut dem ARD-Deutschlandtrend vom Januar 2025 ist das Thema Frieden und Außenpolitik nach Migration und Wirtschaft für die Befragten eines der drängendsten Probleme, um das sich die Politik kümmern muss.
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und die Krisen in Nahost stellen sich deshalb Fragen zur deutschen Bundeswehr: Wie steht es um die Modernisierung der Streitkräfte, wie sinnvoll ist eine Rückkehr zur Wehrpflicht und werden umfassende Änderungen der militärischen Struktur von der Gesellschaft akzeptiert? Diese Fragen werden auch im aktuellen Wahlkampf zur Bundestagswahl diskutiert.
In diesem Text:
- Was sagen die Parteien in ihren Wahlprogrammen?
- Vor welchen Herausforderungen steht die Bundeswehr?
- Welche Technologien sind entscheidend für die Zukunftsfähigkeit?
- Muss die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver werden?
- Brauchen wir wieder eine Wehrpflicht?
- Ist eine europäische Armee irgendwann realistisch?
Was sagen die Parteien in ihren Wahlprogrammen?
- Die SPD setzt auf eine nachhaltige Verteidigungsfinanzierung in Höhe von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und eine nachhaltige Modernisierung. Sie will die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver machen. Dazu zähle die Vereinbarkeit von Familien und Dienst ebenso wie die weitere berufliche Perspektive im öffentlichen Dienst.
- CDU und CSU wollen die Bundeswehr langfristig stärken und modernisieren und die Wertschätzung von Soldatinnen und Soldaten erhöhen. Sie sind außerdem für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Damit wollen sie Möglichkeiten der heutigen Freiwilligendienste weiter ausbauen. Das soll mit einer "aufwachsenden Wehrpflicht" zusammen gedacht werden. Gemeint ist damit, dass diejenigen zum Grundwehrdienst einberufen werden, die tauglich sind und ihre Bereitschaft zum Wehrdienst signalisiert haben.
- Die Grünen plädieren für rechtssichere Prüfverfahren, um extremistische Netzwerke innerhalb der Bundeswehr frühzeitig zu erkennen. Sie wollen die Bundeswehr gut und modern ausstatten. Der freiwillige Wehrdienst soll attraktiver gestaltet werden. Die Partei will außerdem noch mehr in Sicherheit investieren.
- Die FDP will die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Streitkraft Europas machen. Neben besserer Ausstattung und Finanzierung plant sie eine nationale Datenbank zur Erfassung wehrfähiger Männer und Frauen. Der Dienst bei der Bundeswehr soll durch gesellschaftliche Vorteile attraktiver werden, allerdings wird nicht weiter definiert, wie das konkret aussehen soll. Es soll außerdem ein Nationaler Sicherheitsrat eingerichtet werden, der Risiken frühzeitig erkennen soll.
- Die AfD fordert eine umfassende Aufrüstung der Bundeswehr. Die Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden und es soll eine "ideelle Revitalisierung" stattfinden, das heißt die Bindung der Soldatinnen und Soldaten zu Deutschland soll gestärkt werden. Sie plädieren außerdem dafür, die Bundeswehr finanziell besser auszustatten.
- Die Linke fordert Abrüstung und den Rückzug aus allen Auslandseinsätzen. Die Notstandsgesetze, die den Einsatz der Bundeswehr im Inneren ermöglichen, sollen aufgehoben werden. Außerdem plant die Partei einen Austritt aus der NATO, dem politisch-militärischen Bündnis, dem 32 Mitgliedstaaten überwiegend aus der westlichen Hemisphäre angehören. Langfristig verfolgt sie das Ziel eines Deutschlands und Europas ohne Armeen.
- Das BSW möchte die Bundeswehr auf eine reine Verteidigungsarmee beschränken und lehnt höhere Militärausgaben ab.
Vor welchen Herausforderungen steht die Bundeswehr?
Schleppende Modernisierung, sicherheitspolitische Entwicklungen, die offene Frage der langfristigen Finanzierung: Die Bundeswehr steht vor einigen strukturellen Problemen.
Andreas Vasilache lehrt als Professor für Sozialwissenschaftliche Europaforschung an der Universität Bielefeld. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Grenzfragen und der Sicherheitspolitik in Europa. Er sieht vor allem die Finanzierung der Bundeswehr als das größte Hindernis. Die "Restrukturierung der Bundeswehr ist keine Aufgabe von ein bis zwei Jahren, sondern eine Aufgabe, die sich über mehrere Legislaturperioden zieht". Man brauche dafür einen langen Atem.
Das ist ein Marathon und kein Sprint. Andreas Vasilache
2022 beschloss der Bundestag ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, mit dem Ziel der Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit. Das habe zwar kurzfristig Abhilfe geschaffen, doch eine nachhaltige Lösung fehle weiterhin, sagt Vasilache.
Durch Krisen und Konflikte gibt es einige neue Herausforderungen für die Bundeswehr. Am 24. Februar jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine zum dritten Mal. Fast drei Jahre nach diesem Angriff und der denkwürdigen Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Russland im Sommer 2024 ebenfalls als eine Bedrohung für die NATO bezeichnet. In seiner Rede betonte er immer wieder das Ziel, bis 2029 die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen.
Der Ukraine-Krieg hat die Diskussion um Verteidigungsausgaben auf eine neue Ebene gehoben. Derzeit investieren mehr als zwei Drittel der NATO-Staaten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung.
Bei einer Wahlkampfveranstaltung erklärte der neue US-Präsident Donald Trump, dass Länder, die dieses Zwei-Prozent-Ziel nicht erreichen, auch keinen Schutz erwarten können. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten lässt instabilere transatlantische Beziehungen vermuten.
Auch die Struktur der Bundeswehr hat sich zuletzt verändert: Erst 2024 wurde neben Heer, Luftwaffe und Marine eine vierte Teilstreitkraft geschaffen - der "Cyber- und Informationsraum". CIR ist eine Art digitales Schutzsystem für Bedrohungen der hybriden Kriegsführung. Neben der klassischen Cyberabwehr umfasst sie auch Maßnahmen gegen Desinformation.
Ein sicherheitspolitischer Bereich, der bislang in Debatten eher wenig Beachtung findet, ist die Weltraumsicherheit. Der Weltraum sei eine zentrale Grundlage moderner Verteidigungskapazitäten, insbesondere für die Kommunikation - sei es mit Schiffen, U-Booten oder Flugzeugen, erklärt Juliana Süß, Sicherheitspolitik-Forscherin am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, einem Thinktank der Stiftung Wissenschaft und Politik. Gleichzeitig setzt die Bundeswehr auf den Ausbau von Überwachungssystemen im Weltall.
Süß findet, das dürfe nicht als Randthema betrachtet werden: "Man muss sich auch vor Augen halten, dass diese extreme Abhängigkeit, die wir vom Weltraum haben, auch bedeutet, dass Weltraum-Systeme eben auch angegriffen werden können, um eben diese Dienste zu unterbrechen."
In der Ukraine würden GPS-Signale für die Standort-Bestimmung beispielsweise "tagtäglich gestört oder ‘gespooft’, also mit Desinformationen bespickt", erklärt sie.
Die größte Herausforderung sieht sie in der fehlenden Unabhängigkeit: "Deutschland ist da ein bisschen hinterher, wir sind extrem abhängig von den Vereinigten Staaten, was Weltraumfähigkeiten angeht."
"Wenn wir betrachten, was die USA jährlich für den Weltraum an Geld einsetzen, könnte Deutschland da nicht mithalten." In den USA gibt es bereits seit 2019 eine "Space Force", also eine militärische Raumfahrteinheit als Teilstreitkraft neben Armee, Luftwaffe und Marine.
Welche Technologien sind entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr?
Die Modernisierung der Bundeswehr geht über die Beschaffung neuer Waffensysteme hinaus. Ob Drohnen, Künstliche Intelligenz oder Cyberabwehr - die Anforderungen an die technische Ausstattung der Bundeswehr haben sich in den vergangenen Jahren verändert, spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Die deutschen Streitkräfte müssen auch im digitalen Raum leistungsfähiger werden, sagt Alexandra Paulus, Koordinierende Leiterin des Forschungsclusters Cybersicherheit und Digitalpolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Entscheidend ist, dass die Bundeswehr nicht so sehr darüber nachdenkt, welches Gerät zusätzlich beschafft werden sollte, sondern wie sie ihre Geräte miteinander besser vernetzt", so Paulus. In Bundeswehr-Kreisen werde das unter dem Stichwort ‘Software-defined Defence’ diskutiert, sei aber vom Status quo der Rüstung noch sehr weit entfernt.
Der Fokus liegt also auf Software- statt Hardware-Systemen. Ziel ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen Systeme innerhalb der Bundeswehr zu verbessern. "Die Idee von 'Software-defined Defense' ist, dass über eine zentrale Software-Plattform alles militärische Gerät miteinander vernetzt wird. Das soll dann unter anderem ermöglichen, dass Informationen schnell ausgetauscht werden können oder dass neue Funktionalitäten per Software-Updates schnell entwickelt und aufgespielt werden können", erklärt Alexandra Paulus.
Eine besondere Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, beispielsweise bei der Verarbeitung von großen Datenmengen. Auch das Bundesministerium der Verteidigung sieht in den genannten Software-Technologien die Zukunft: Solche softwarebasierten Systeme könnten flexibler auf technische und taktische Anforderungen reagieren und sich besser an veränderte Bedrohungslagen anpassen.
Muss die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver werden?
Dass die Bundeswehr ein Personalproblem hat, ist keine Neuheit. Ob an Bahnhöfen, an Bushaltestellen oder am Flughafen - überall prangen riesige Werbeplakate für eine Karriere bei der Bundeswehr. Trotzdem ist die Zahl der Soldatinnen und Soldaten in den letzten Jahren gesunken. Im Jahr 2024 lag sie bei 181.570 - 2010 noch bei 245.823.
Mit dem Programm "Trendwende Personal" im Jahr 2016 wurde erstmals seit dem Kalten Krieg beschlossen, dass die Zahl der Streitkräfte wieder wachsen soll. Das Ziel: 203.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr im Jahr 2025.
Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien an der Universität Hamburg und Co-Leiter des Forschungsnetzwerks "Rethinking Nuclear Deterrence" an der Harvard Universität.
Der Experte für nukleare Abschreckung stellt fest, dass sich der gesellschaftliche Stellenwert der Bundeswehr mit dem Krieg in der Ukraine geändert hat: "Ich bin der Meinung, dass die letzten Jahre mit dem Krieg in der Ukraine gezeigt haben, dass ein Staat verteidigungsfähig sein muss." Um sich im Zweifelsfall gegen einen Aggressor verteidigen zu können, brauche man eine ordentlich ausgerüstete Armee, "das ist inzwischen auch dem Letzten in Deutschland klar geworden."
Fehlende Wertschätzung sieht Kühn bei der Bundeswehr selbst darum eigentlich nicht, die Bundeswehr habe "eine positive Wahrnehmung in der Bevölkerung, im Sinne ihrer grundsätzlichen Daseinsberechtigung." Negativ sei die Wahrnehmung dort, "wo es dann darum geht, was die Bundeswehr überhaupt kann und in welchem Zustand sie ist, und dafür kann dann weniger die Bundeswehr selbst etwas."
Die Forderung, die gesellschaftliche Wahrnehmung der Bundeswehr zu stärken, findet sich auch vereinzelt in den Wahlprogrammen wieder. Die SPD plädiert dafür, die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv zu machen, indem die Vereinbarkeit von Familien und Beruf gestärkt wird und weitere berufliche Perspektiven im öffentlichen Dienst geschaffen werden.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sieht auch Sozialwissenschaftler Andreas Vasilache als Kernproblem - das sei "für eine Armee vielleicht eine ungewöhnliche Perspektive, wenn wir uns aber die Streitkräfte anderer Staaten anschauen, die sich sehr proaktiv modernisiert haben, erkennen wir Nachholbedarf bei der Bundeswehr."
Im Wahlprogramm von CDU und CSU ist das unter dem Stichpunkt “Soldatinnen und Soldaten wertschätzen” verankert. Der Union geht es dabei darum, die Bundeswehr im öffentlichen Leben stärker zu verankern und auch weiterhin an dem Modell der Jugendoffiziere festzuhalten.
Dass die Stellung der Bundeswehr in der Gesellschaft verbessert werden muss, sehen aber nicht alle Parteien so. Die Linke lehnt in ihrem Wahlprogramm Bundeswehrwerbung an Bildungseinrichtungen, etwa durch Jugendoffiziere, beispielsweise ab.
Brauchen wir wieder eine Wehrpflicht?
Im Juni 2024 hat Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) einen Ansatz für einen "Neuen Wehrdienst" vorgestellt. Er schlägt eine Musterungsabfrage für alle Männer ab 18 Jahren vor, während Frauen den Fragebogen freiwillig ausfüllen dürften. Ein ähnliches Modell gibt es bereits in Schweden . Zum 18. Geburtstag bekommen dort alle jungen Frauen und Männer Post. Sie müssen dann online einen Fragebogen ausfüllen und werden je nach Antwort zur Musterung eingeladen.
Die Union wiederum fordert in ihrem Wahlprogramm eine "aufwachsende Wehrpflicht". Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr soll zur Stärkung der Verteidigungskräfte beitragen – wer als tauglich gilt und seine Bereitschaft zum Wehrdienst erklärt, könnte dann einberufen werden.
Ulrich Kühn sieht die Schwierigkeiten, die sich aus der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ergeben haben. Dennoch hält er ihre Wiedereinführung nicht für sinnvoll, es sei fraglich, "ob die Bundeswehr momentan überhaupt logistisch in der Lage wäre, eine Wehrpflicht oder Teil-Wehrpflicht wieder einzuführen. Und da sagen alle Experten: Nein, das können sie derzeit nicht."
Während die AfD als einzige Partei einen verpflichtenden Wehrdienst fordert, sprechen sich alle anderen Parteien gegen eine Wiedereinführung aus. Rein rechtlich wäre die Rückkehr zur Wehrpflicht jedoch vergleichsweise einfach umzusetzen: Sie wurde 2011 nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt. Die verfassungsrechtliche Grundlage besteht weiterhin: Artikel 12a des Grundgesetzes ermöglicht es, sie durch ein einfaches Gesetz wieder in Kraft zu setzen – eine Verfassungsänderung wäre dafür nicht erforderlich.
Ist eine europäische Armee irgendwann realistisch?
Spätestens mit der Rückkehr von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten sind Spannungen innerhalb der NATO und instabilere transatlantische Beziehungen zu erwarten. Deutschland arbeitet bereits eng mit Frankreich und Polen im sogenannten Weimarer Dreieck zusammen und pflegt enge Kooperationen mit Estland im Bereich Cybersicherheit.
Entstanden ist das Weimarer Dreieck während des Kalten Krieges. Doch an Relevanz hat es bis heute nicht verloren. Ziel ist es, gemeinsam verschiedene europäische Blickwinkel zusammenzubringen. Andreas Vasilache von der Universität Bielefeld sieht da auch keine Alternative: "Also wenn überhaupt, dann kann es nur einen europäischen Weg geben, ich sehe nicht, dass irgendein Land Europas oder der EU dazu alleine in der Lage wäre". Man müsse über den Aufbau koordinierter europäischer Streitkräfte reden.
Eine vollwertige europäische Armee ist laut Bundeswehrforscher Ulrich Kühn aber unwahrscheinlich: "Die EU ist kein Staat. Wir sprechen hier nicht von den Vereinigten Staaten von Europa und Verteidigung und Sicherheitsfähigkeit ist ein sehr kompliziertes Themenfeld, wo natürlich die Staaten auf ihre Unabhängigkeit pochen."
Es sei schwer vorstellbar, dass die Europäer sich in diesem sehr schwierigen Politikfeld einigen, "wenn sie sich schon in anderen Bereichen wie beispielsweise Agrarförderung und anderen Themen nicht einigen können”, so Kühn. Konkrete Bemühungen in Richtung einer europäischen Armee gibt es derzeit auch keine.
Was der Bundeswehr aktuell fehlt. WDR Studios NRW. 05.02.2025. 02:04 Min.. Verfügbar bis 05.02.2027. WDR Online.
Unsere Quellen:
- Interviews mit Andreas Vasilache, Juliana Süß, Alexandra Paulus und Ulrich Kühn
- Wahlprogramme der Parteien
- Tagesschau-Artikel zur Weltraumverteidigung
- Bundeswehr-Webseite über CIR und Zahlen
- Bundesministerium der Verteidigung
- Bundesregierung
- Deutscher Bundestag