Der Klischee-Check

Klischee-Check: 7 Vorurteile über die EU

Stand: 07.06.2024, 06:00 Uhr

Über die EU kursieren viele Klischees. Einige besitzen einen wahren Kern, doch so manches Vorurteil beruht auf Gerüchten. Sieben Klischees im Faktencheck.

Klischee 1: Das Europaparlament ist nur eine Quasselbude

Ja, es wird sehr viel geredet im Europäischen Parlament in Straßburg - und zwar in bis zu 24 Amts- und Arbeitssprachen. Häufig auch mal durch und gegeneinander und gerne über die streng begrenzte Redezeit hinaus. Allein am Rednerpult sind in den vergangenen fünf Jahren 55.000 Minuten (umgerechnet mehr als 916 Stunden) zusammengekommen.

"Das Problem ist, dass in so vielen Sprachen geredet wird. Impulsive Debatten, wie wir sie aus dem Bundestag kennen, kommen deswegen kaum zustande, weil man die Übersetzung erst einmal abwarten muss." WDR-Korrespondent Thomas Spickhofen.

Bei allem Gerede hat das Parlament aber auch wirklich was zu sagen: 370 Gesetze hat es in der nun endenden Legislaturperiode debattiert, angenommen und unterzeichnet.

Überhaupt hat sich das gesamte Parlament über die Jahre und Jahrzehnte immer mehr Macht erkämpft - vor allem, wenn es darum geht, wieviel Geld Europa ausgeben darf und wofür.

Auch wenn es um Top-Personalien in der EU geht, läuft nichts ohne Zustimmung aus Straßburg. Chef der Kommission, also Präsidentin oder Präsident, wird nur, wer die Abgeordneten mehrheitlich überzeugt. Und dann geht es erst los: Die Parlamentarier kontrollieren die Arbeit der EU-Kommissare und können ihnen mit Untersuchungsausschüssen das Leben schwer machen.

Ruhiger dürfte es in der mächtigen Quasselbude nach der Wahl nicht werden: 15 weitere Sitze kommen ab Juli im neuen Parlament dazu, so dass dann 720 Abgeordnete Gesetze für die knapp eine halbe Milliarde Europäerinnen und Europäer diskutieren.

Klischee 2: Die EU ist ein aufgeblähter Apparat

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ist eine von mehr als 60.000 Menschen, die für die europäischen Institutionen arbeiten. Sie sind für fast eine halbe Milliarde Menschen in den 27 Mitgliedsstaaten zuständig. Damit kommt ungefähr ein EU-Mitarbeiter auf 9.000 Einwohner.

Zum Vergleich: Für die Stadt Köln arbeiten rund 22.000 Menschen für knapp eine Million Einwohner. Das ergibt ein Verhältnis von einem Beamten für 46 Bürger.

Klischee 3: Die EU reguliert zu viel Sinnloses

Eine krumme Gurke liegt auf vielen geraden Gurken

Die krumme Gurke - Symbol für zu viel Regulierung

Fast alle kennen sie: die gekrümmte Gurke - das etwas in die Jahre gekommene Symbolbild von Regulierungswut, das seinen Ursprung in einer Verordnung hat, die es schon längst nicht mehr gibt.

Die EU reguliert naturgemäß viel dort, wo sie alleine oder vorwiegend zuständig ist. Das sind internationale Handelsbeziehungen, der Binnenmarkt, die Landwirtschaft oder die Fischerei. Dagegen hat die EU in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und Gesundheit nach wie vor wenig zu melden.

Vor rund zehn Jahren gab es noch ungefähr 4.600 grundlegende Rechtsakte in der EU. Heute sind es knapp 6.500 Richtlinien, Gesetze und Verordnungen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 5.600.

Das klingt alles erst einmal viel. Es bringt aber kaum weiter, nur auf die Zahlen zu blicken. Entscheidender ist am Ende die Qualität der Vorschriften. Und die ist sehr unterschiedlich.

"Bei manchen fragt man sich schon: 'Hä, was soll das denn?' Mir ist das kürzlich bei der Pizza-Verordnung aufgefallen. Die besagt, dass eine Pizza Napoletana nicht nur rund sein muss, sondern auch maximal einen Durchmesser von 35 Zentimetern haben darf. Und das Innere dieser Pizza darf nicht höher als vier Millimeter sein." WDR-Korrespondent Thomas Spickhofen

Seit einigen Monaten ziehen vor allem Liberale und Christdemokraten gegen die Bürokratie zu Felde und fordern einen allgemeinen Regulierungsstopp. Unter dem Druck von Bauernprotesten sind zuletzt in kürzester Zeit bürokratische Vorgaben zum Umweltschutz zurückgenommen worden .

Die EU-Gesetzgebung ist also flexibel, unterliegt auch der politischen Großwetterlage. Hinzu kommt: Forderungen und Anträge nach neuen Gesetzen kommen oft nicht aus der Politik selbst, sondern von extern - so wie einst bei der Gurke.

Der Wunsch, die Form von Gurken zu vereinheitlichen, stammte nämlich aus dem Handel. Der simple Grund: Gerade Gurken könnten leichter gestapelt und transportiert werden als krumme.

Für WDR-Korrespondent Thomas Spickhofen stimmt das Klischee der Überregulierung deswegen nicht: "Ja, es gibt ein paar skurrile Abwege, keine Frage. Aber es ist nicht so, dass das alles in einem Elfenbeinturm entsteht, sondern weil die Mitgliedsländer das in Auftrag gegeben haben oder weil jemand einen Antrag gestellt hat."

Und vieles, was dann von der EU entschieden wird, greift stärker in unseren Alltag ein, als wir glauben:

Wie die EU Einfluss auf unseren Alltag nimmt

Alle fünf Jahre wählen die EU-Bürger die Mitglieder des Europäischen Parlaments. Diese wiederum treffen wichtige Entscheidungen für unseren Alltag. Hier sind einige Beispiele:

Ein Ladekabel mit USB-C-Stecker liegt neben einem Bündel unterschiedlicher Anschlusskabel.

Nur noch ein Ladekabel: Handy, Tablet, Kopfhörer, Digitalkameras oder auch Spielekonsolen brauchen oft je nach Hersteller verschiedene Ladekabel. Damit ist künftig Schluss. Nach einer EU-Richtlinie werden einheitliche Ladekabel und Ladestecker Ende 2024 Pflicht. Dann wird USB-C Standard für Ladekabel.

Nur noch ein Ladekabel: Handy, Tablet, Kopfhörer, Digitalkameras oder auch Spielekonsolen brauchen oft je nach Hersteller verschiedene Ladekabel. Damit ist künftig Schluss. Nach einer EU-Richtlinie werden einheitliche Ladekabel und Ladestecker Ende 2024 Pflicht. Dann wird USB-C Standard für Ladekabel.

Tschüss Plastiktüte: Plastikmüll ist ein riesiges globales Problem. Aber immerhin gibt es seit 2022 in Supermärkten und anderen Läden hierzulande im Kassenbereich keine dünnen Einweg-Plastiktüten mehr - dank einer EU-Richtlinie. Auch Plastikbesteck oder Plastikstrohhalme sollen nach Willen der EU möglichst ganz verschwinden. Seit Juli 2021 sind in der EU Produktion und Handel vieler Einwegprodukte verboten.

Weniger Nitrat: In der Landwirtschaftspolitik hat die EU mit ihren Entscheidungen viel zu sagen. So stritten EU-Kommission und Berlin zum Beispiel jahrelang über zu hohe Nitratbelastung im Grundwasser. Die Nitrate stammen meist aus Düngern. Die EU verklagte Deutschland sogar. Schließlich brachte die Bundesrepublik neue Düngeregeln auf den Weg.

Öffentliches Trinkwasser: Auch Bürger selbst können bei der EU mit Ideen anklopfen. So geschehen bei einer Bürgerinitiative, die sich für öffentliches Trinkwasser einsetzte. Mit Erfolg: Eine EU-Trinkwasser-Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Bürgern künftig im öffentlichen Raum mehr kostenlosen Zugang zu Trinkwasser zu ermöglichen - zum Beispiel durch Trinkbrunnen.

Saubere Badeseen: Nicht nur Trinkwasser hat die Europäische Union im Blick. Eine EU-Richtlinie von 2008 sorgt auch dafür, dass die Qualität von Badegewässern regelmäßig überwacht wird, denn hier können Krankheitserreger schwimmen, die für Badegäste gefährlich sind. Für gesundheitsschädliche Bakterien und Viren hat die EU Grenzwerte festgelegt.

Pauschalreise abgesichert: Seit 2018 bleiben Kunden von Pauschalreisen durch das EU-Verbraucherrecht nicht mehr auf den Kosten sitzen, wenn der Reiseveranstalter in die Pleite rutscht. Der Veranstalter muss seitdem eine Versicherung dagegen abschließen.

Sicherer einkaufen im Netz: Beim Onlineshopping werden Verbraucherrechte durch verschiedene EU-Vorschriften geschützt. Zum Beispiel muss der Gesamtpreis klar ersichtlich sein, die Ware muss innerhalb von 30 Tagen geliefert werden und es gilt ein 14-tägiges Rückgaberecht ohne Begründung.

Besserer Schutz der eigenen Daten: Mit einer Verordnung hat die EU 2018 den Datenschutz verbessert. Bürger haben seitdem mehr Kontrolle über persönliche Daten, zum Beispiel das Recht auf verständliche Auskunft, welche Daten über sie gespeichert werden. Sie haben auch bessere Chancen, Daten löschen oder sperren zu lassen.

Günstiger Mobil telefonieren: Durch eine EU-Entscheidung fielen 2017 die Roaminggebühren weg. Seitdem zahlen wir keine Extra-Gebühren für das Telefonieren oder Surfen im EU-Ausland, und es gibt keine bösen Rechnungsüberraschungen mehr. Das ist nicht nur im Urlaub nützlich, sondern zum Beispiel auch für Studierende im oder aus dem Ausland.

Strom sparen beim Kaffeekochen: Eine EU-Verordnung regelte 2015, dass sich Kaffeemaschinen nach einer bestimmten Zeit automatisch abschalten müssen, statt den Kaffee stundenlang auf einer Heizplatte warmzuhalten.

Code auf dem Frühstücksei: Auch die Kennzeichnung von Eiern ist EU-weit verbindlich geregelt. Auf jedem Ei findet sich zum Beispiel ein vorgeschriebener Code aus Zahlen und Buchstaben. So können Kunden mit einem Blick sehen, wie das Huhn gehalten wurde und in welchem Betrieb das Ei gelegt wurde. Die erste Ziffer steht dabei zum Beispiel für die Haltungsform (0=Bio-Ei oder 1= Freilandei).

Leichter studieren im Ausland: Ein EU-Programm fördert seit 1987 Auslandssemester für Studierende. Mit einem Erasmus-Stipendium können Studierende je nach Gastland bis zu 500 Euro im Monat bekommen. Aber nicht nur Studenten profitieren. Es gibt auch internationale Bildungsangebote für Auszubildende, Schüler und verschiedene Bildungsprojekte. 

Glühbirnen verboten: Seit 2009 wurden Produktion und Verkauf von Glühbirnen schrittweise verboten. Damit wollte man vor allem Energie sparen, denn die Birne machte zwar Licht, produzierte aber vor allem Wärme durch Strom.

Eine Währung für alle: Früher musste man bei Reisen in ein anderes EU-Land auch die entsprechende Währung dabei haben. Vor jeder Reise wurde mühsam und teuer Geld getauscht. 2002 kam der Euro. Mittlerweile haben 20 Länder ihre nationalen Währungen durch den Euro ersetzt.

Reisen ohne Grenzkontrollen: Nicht nur die Landeswährung musste man früher im Gepäck haben, wenn man ins Nachbarland reiste, auch die Grenzen waren sichtbarer - Grenzkontrollen inklusive. Mit dem Inkrafttreten des Schengener Übereinkommens 1995 wurden die Grenzkontrollen abgeschafft. Millionen Menschen überqueren jeden Tag eine der Binnengrenzen in der Europäischen Union.

Klischee 4: Die EU entscheidet über unsere Köpfe hinweg

"Dieses Gefühl hat vor allem etwas mit der Unübersichtlichkeit der EU und deren Arbeit zu tun. Und natürlich mit Politikern, die das ausnutzen, um unliebsame Dinge zu beschließen, die die Bürger erst sehr viel später betreffen", sagt WDR-Korrespondent Andreas Meyer-Feist.

Die EU veröffentlicht nahezu wöchentlich und in bestimmt guter Absicht einen riesigen Wust an Protokollen. Das Ziel: gute Erklärungen und Transparenz. Leider sind die Erklärungen oft unverständlich und unübersichtlich. Was aber zählt, ist eine demokratisch gewählte Regierung. Und die gibt es.

Denn EU-Entscheidungen werden von zwei Institutionen gemeinsam getroffen: zum einen von Abgeordneten im Europäischen Parlament, die wir direkt wählen können, zum anderen vom Europäischen Rat, in dem die Bundesregierung vertreten ist.

Klischee 5: Deutschland ist der Zahlmeister der EU

Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann stimmt das: Deutschland zahlt mit Abstand am meisten in den europäischen Haushalt ein - mehr als 30 Milliarden Euro brutto jährlich. Dahinter folgen Frankreich, Italien und Spanien.

Drei Gießkannen in den Farben schwarz, rot, gelb stehen nebeneinander. Vor ihnen liegen goldene Euro-Zeichen.

Deutschland überweist von allen am meisten nach Brüssel.

Wenn man rausrechnet, was aus den Fördertöpfen wieder zurückkommt, zum Beispiel für die Landwirtschaft oder strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet, bleiben am Ende immer noch 19,7 Milliarden Euro, die Deutschland mehr einzahlt als einnimmt. Das sind durchschnittlich 237 Euro pro Bürger. Aber warum ist das so?

Die Regeln sind in der EU so, dass die wohlhabenden Länder schwächere Regionen unterstützen, damit sich die Lebensverhältnisse nach und nach angleichen. Deshalb ist es kein Wunder, dass Deutschland am meisten zahlt. Schließlich sind wir die größte Volkswirtschaft in der EU mit der größten Wirtschaftskraft. Aber was bringt uns das?

"Man kann das nicht einfach durch schlichtes Gegenrechnen von Einnahmen und Ausgaben ermitteln", sagt WDR-Korrespondentin Helga Schmidt. Klar ist aber: Deutschland ist viel abhängiger vom Export als die meisten Partnerländer. Und die Hälfte des deutschen Exports geht in den Binnenmarkt, also an die Partner.

"Deutsche Unternehmen profitieren besonders vom europäischen Binnenmarkt." WDR-Korrespondentin Helga Schmidt

Heißt am Ende: Deutschland zahlt viel ein. Die deutsche Wirtschaft profitiert aber auch besonders davon.

Klischee 6: Brüssel ist in der Hand der Lobbyisten

"Brüssel ist ein Paradies für Lobbyisten", sagt WDR-Korrespondentin Helga Schmidt. Denn hier werden die Regeln für den größten Binnenmarkt der Welt bestimmt. Kein Wunder also, dass Interessengruppen versuchen, die Regeln mitzugestalten. Rund 12.000 Lobbyisten sind in Brüssel registriert - die großen Verbände der Chemie- und Autoindustrie genauso wie Umweltgruppen, NGOs und Denkfabriken.

Lobbyismus

Brüssel ist ein Paradies für Lobbyisten.

Keine Branche steckt so viel Geld in die Lobbyarbeit wie die großen amerikanischen Internetkonzerne. An der Spitze liegt Meta, Betreiber der sozialen Netzwerke Facebook und Instagram, mit Investitionen von zuletzt acht Millionen Euro pro Jahr.

Gleich dahinter folgt der Chemiekonzern Bayer: Das Leverkusener Unternehmen ließ sich die Lobbyarbeit in Brüssel allein im Jahr 2022 sieben Millionen Euro kosten.

"Die Erfolge der Lobbyisten lassen sich jedoch von außen schwer beurteilen und noch schwerer nachweisen", sagt Schmidt. Die Grenzen zwischen fragwürdiger Einflussnahme einerseits und andererseits fachlicher Beratung, die die Kommissionsspitze und die Abgeordneten für ihre Entscheidungen brauchen, seien nämlich fließend.

Einfluss von Lobbygruppen auf Gesetze gibt es nicht nur in Brüssel, sondern auch in anderen Hauptstädten. In Brüssel herrschen im internationalen Vergleich strenge Regeln. Treffen mit Abgeordneten und hohen Kommissionsvertretern zum Beispiel müssen dokumentiert und offengelegt werden. Dafür gibt es ein eigenes Transparenzregister.

Klischee 7: EU-Politiker verschlingen Millionen, weil sie viel pendeln.

TGV auf der Strecke zwischen Preny und Reims-Bezannes, Frankreich

Viele EU-Politiker pendeln zwischen Brüssel und Straßburg.

Eigentlich sitzen und arbeiten die EU-Abgeordneten, deren Mitarbeiter und Journalisten in Brüssel. Einmal im Monat reisen jedoch alle nach Straßburg: Dort hat das Europäische Parlament seinen Hauptsitz, an dem in der Regel das Plenum tagt.

Martin Schirdewan, Fraktionschef der Linken im EU-Parlament, wollte wissen, was das kostet und hat Zahlen beim Wissenschaftlichen Dienst des Europaparlaments erfragt. Demnach soll die Pendelei im Jahr 2022 rund 63 Millionen Euro gekostet haben. Nicht eingerechnet sind die Kosten für die Züge und Lkw.

Immer wieder gibt es deswegen Bestrebungen, den teuren "Wanderzirkus" zu stoppen und die Arbeit des Parlaments vollständig nach Brüssel zu verlegen. Dort haben auch die Europäische Kommission und der Rat der Mitgliedstaaten ihren Hauptsitz. Einer Änderung müssten die Franzosen zustimmen - die wollen den Standort Straßburg aber nicht aufgeben.

Unsere Quellen:

  • WDR-Korrespondenten in Brüssel
  • Europäische Kommission
  • Europäisches Parlament
  • Institut der deutschen Wirtschaft
  • Nachrichtenagentur AFP
  • Nachrichtenagentur dpa
  • ZDF heute.de
  • Stadt Köln

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