MEINUNG
Gendern: Entspannt Euch mal!
Stand: 06.02.2023, 06:00 Uhr
Berichterstattung funktioniert nur mit Sprache. Aber die ist im Wandel. Das "Gendern" erhitzt die Gemüter. Und auch Medienhäuser müssen sich entscheiden. "Wir brauchen einen unverkrampften Mittelweg", meint WDR-Chefredakteur Stefan Brandenburg.
Von Stefan Brandenburg
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Zu den Kommentaren [176]Jeder und jedem können Sie es nicht Recht machen. Das lernen Sie in meinem Job in der Regel an Tag eins Ihres Berufslebens, wenn die erste Beschwerdemail kommt. Trotzdem würde ich das gerne. Denn als öffentlich-rechtlicher Journalist werde ich von jeder und jedem bezahlt. Und das reicht erstmal, um den Traum nicht aufzugeben von einem Programm, das alle gut finden.
Beim Gendern scheint das allerdings unmöglich zu sein. Lasse ich’s bleiben, bin ich reaktionär und rückständig. Mache ich’s, darf ich mich als Volkserzieher beschimpfen lassen. Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, sind sich übrigens ebenso wenig einig wie die Menschen, die unseren Sprachgebrauch kommentieren. Gendern spaltet. Nicht-Gendern spaltet.
Gemeinsam sprechen ist wichtig wie nie
Ich finde, das ist ein echtes Unglück. Wir haben eine gemeinsame Sprache noch nie so sehr gebraucht wie heute. Bei vielen Themen sind die Fronten verhärtet. Da stehen nicht nur Meinungen gegeneinander, da fehlt oft sogar die Grundlage in Form von Fakten, die alle anerkennen. Wenn jetzt noch obendrauf kommt, dass wir uns über den Sprachgebrauch zerlegen, wenn wir gar nicht erst anfangen zu diskutieren, sondern erst mal damit beschäftigt sind, die Ausdrucksweise unseres Gegenübers zu sezieren - wo führt uns das dann hin?
Mein Selbstverständnis als Journalist ist: Ich kämpfe für einen gemeinsamen Diskussionsraum. Einen Raum, wo Perspektiven und Meinungen ausgetauscht werden, je unterschiedlicher, desto besser. Idealerweise mit der Frage: Könnte es nicht sein, dass der oder die andere auch ein bisschen Recht hat? Logischerweise geht das nur auf Basis einer gemeinsamen Sprache.
WDR-Befragung zum Gendern
Deshalb haben wir im WDR ein großes Interesse zu erfahren, wie gemeinsame Sprache 2023 aussieht. Konkret: worauf wir uns beim Thema Gendern in diesem Land verständigen können. Wir haben Sie gefragt. Und wir haben erst mal eine schlechte Nachricht erhalten: Sie sind sich nicht einig. 41 Prozent der Menschen freuen sich, wenn Medien gendern. Während sich gut die Hälfte genau darüber ärgert. Vor zwei Jahren war es übrigens noch umgekehrt. Unsere repräsentative Umfrage zeigt also das ganze Dilemma. Egal wie wir uns entscheiden, wir machen’s falsch.
Eine Mehrheit ist für das Nennen beider Geschlechter
In der schlechten Nachricht steckt eine gute. Die muss man allerdings erstmal finden: 69 Prozent der Menschen halten es für richtig, wenn beide Geschlechter genannt werden, "Bürgerinnen und Bürger". Umgekehrt lehnen ebenfalls 69 Prozent die gesprochene Lücke bei "Bürger innen" ab.
Es gibt also, aller Polarisierung zum Trotz, eine deutliche Mehrheit, eine gute Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Sprache, die sich behutsam wandelt. Die nicht dogmatisch daherkommt, aber auch nicht rückwärtsgewandt, als wäre nichts gewesen und als hätte es all die Diskussionen über Geschlechtergerechtigkeit nicht gegeben.
Wir müssen uns in der Mitte treffen
Wenn Friedrich Merz uns, den Öffentlich-Rechtlichen, unterstellt, wir wollten Gendern vorschreiben, dann verkennt er: Ein großer Teil der Gesellschaft ist inzwischen woanders. Nicht bei Verweigerung und nicht bei Erziehung. Sondern bei einem unverkrampften Mittelweg.
Und so banal das klingt: Wir müssen uns eben in der Mitte treffen. Das machen, worauf sich zwei Drittel verständigen können. Die Mitte ist in Bewegung. Sie ist nicht mehr da, wo sie vor 20 Jahren war. Zum Glück. Denn viele Menschen leben inzwischen freier, als sie es früher konnten. Sie ist aber auch nicht heute schon da, wo sie vielleicht in zehn Jahren einmal sein wird, bei den Vorreiterinnen und Vorreitern einer bewusst und penibel gebrauchten Sprache.
Stefan Brandenburg
Was heißt das in der Praxis, was heißt es für unsere Nachrichten? Wir werden auch weiterhin die gesprochene Genderlücke nicht verwenden. Wir sagen nicht "Bürger innen" mit kurzer Pause dazwischen, außer in einzelnen Angeboten, die sich zum Beispiel an Zielgruppen richten, die selbst so reden. In unseren allgemeinen Informations-Programmen werden Sie eher von "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern" hören oder von "Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten". Allerdings nicht krampfhaft, nicht immer, nicht um jeden Preis.
Gerne, wenn‘s passt, eine intelligente Beidnennung. Eine, die hilft, Stereotype zu durchbrechen. Wenn ich bei uns im Programm höre, dass es nicht nur Piloten gibt, sondern auch Pilotinnen, Installateurinnen und Maschinenbauerinnen, dann freue ich mich, weil ich in dem Moment an meine Tochter denke. Sie weiß noch nicht, was sie einmal werden will. Sie soll aber alle Möglichkeiten in sich spüren können.
Auch wenn es manchmal nervt - das nennt man Toleranz
Umgekehrt ist es mir ziemlich egal, wenn mal von Studenten die Rede ist und nicht von Studierenden oder nur von Lehrern - es dürfte niemandem entgangen sein, dass in beiden Gruppen Frauen gleich vertreten sind oder eine Mehrheit haben. Und es nervt mich, wenn bei Aufzählungen vor lauter Korrektheit der Überblick verloren geht, "Französinnen und Franzosen, Italienerinnen und Italiener, Belgierinnen und Belgier…", das ist umständlich und eher nicht Sinn der Sache. Aber es ist eben schon Sinn der Sache, im Sprachgebrauch immer mal wieder zu zeigen, dass alle gemeint sind, die Krankenpfleger und die Chefärztinnen, die Automechanikerinnen und die Kindergärtner.
Wenn ich darauf setze, dass ein solcher Mittelweg funktioniert, dann auch, weil ich an eine alte Tugend glaube: Dass es ein Gewährenlassen anderer Überzeugungen noch gibt. Frau und man nennt es Toleranz. Denn auch wenn wir es nicht jederzeit jeder und jedem Recht machen können: Wir sind für alle da.
Wie halten Sie es? Gendern Sie? Oder nicht? Und wie empfinden Sie gegenderte Sprache in Berichterstattung? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.
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176 Kommentare
Kommentar 176: Birgit S. schreibt am 13.02.2023, 01:18 Uhr :
Die Sprechpause ist wirklich strange. Muss immer innerlich grinsen, wenn es jemand in einem privaten Gespräch macht. Kann ich mich nicht dran gewöhnen. Es ist aber wichtig, dass in der Sprache mehr als nur das männliche Geschlecht sichtbar wird. Dass es bislang anders war, spiegelt ja auch Lebensverhältnisse wieder. Lebensverhältnisse, die sich teilweise, aber immer noch nicht genug gewandelt haben. Wenn in der deutschen Sprache aus 83 Anwältinnen und 2 Anwälten zusammenfassend 85 Anwälte werden können, stimmt etwas nicht. Ich bin für Lösungen wie z. B. "Kolleginnen und Kollegen", so etwas wie Kollegenschaft wäre ungebräuchlich. Studierende ist ebenso vollkommen ok wie Kundschaft. Es kommt drauf an.
Kommentar 175: Martin M. schreibt am 12.02.2023, 19:18 Uhr :
Wenn erstmal unsere Kinder in der Schule gendern müssen, was ja angesichts des quasibehördlichen Verbreitens von Gendern nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, wird ein Eltern-Aufschrei durch dieses Land gehen. Wer will dann noch von "gerechterer Sprache" sprechen, wenn massenweise - insbesondere bei Schülern mit Migrationshintergrund, mit Legasthenie oder Deutsch-Schwäche - die Deutschnoten in den Keller gehen, insbesondere beim sinnerfassenden Lesen.
Kommentar 174: Das sind die Fakten ! schreibt am 12.02.2023, 07:00 Uhr :
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)
Kommentar 173: Peter R. schreibt am 11.02.2023, 22:03 Uhr :
Die vermeintlich geschlechtergerechte Sprache, kurz auch "gendern" genannt, ist hässlich und umständlich, verengt den Sprachraum und verringert die Treffsicherheit der Bezeichnungen. Die Mitarbeiter (zum Beispiel in einem Unternehmen) sind auch dann noch Mitarbeiter, wenn sie gerade pausieren und deshalb nicht mitarbeiten. Mitarbeitende sind sie aber in dem Moment nicht mehr. Die Beispiele, wie "gendern" die Sprache verarmt, ließen sich fast unendlich fortsetzen. Da muss sich also niemand "in der Mitte treffen". Der Unsinn ist zu unterlassen.
Kommentar 171: nyo schreibt am 10.02.2023, 21:36 Uhr :
Vielen Dank, lieber WDR. Ich sehe es exakt so wie hier geschrieben und würde mir wünschen, dass weitere Medien dem folgten.
Kommentar 170: Tommes_2023 schreibt am 10.02.2023, 18:37 Uhr :
Ganz Wichtig ist das Der Lidl Konzern die Kleinen Plastikfähnchen der Mini Einkaufswägen wo drauf steht "Einkaufshelfer" richtig Gendert und Einkaufshelfer*innen drauf schreibt!
Antwort von Hawalka , geschrieben am 12.02.2023, 09:36 Uhr :
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das ironisch meinen. Eine Einkaufshelferin jedenfalls ist eine Frau. Aber haben denn Wägen neuerdings auch ein Geschlecht?
Kommentar 167: Anonym schreibt am 10.02.2023, 09:49 Uhr :
Das ist ja schön, dass man beim WDR sprechen will wie das Publikum. Aber wenn Sie sich jetzt festlegen dass niemand im WDR-Programm gendert, dann sind wohl die Leute (auch wenn die eine Minderheit sind) nicht Ihr Publikum, die gendern wollen. Warum überlassen Sie diese Entscheidung nicht den jeweiligen Sprechern/Redakteuren? Es darf doch jede/r sprechen und schreiben wie er/sie will und es befremdet mich dass der WDR nicht in der Lage ist das gegen die ganzen "Sprachbewahrer" zu kommunizieren.
Antwort von Anon , geschrieben am 12.02.2023, 08:40 Uhr :
Das darf Sie gerne befremden, aber staatliche Institutionen sind nicht dafür da den Sprachexperimenten der Redakteure Reichweite zu verschaffen. Diese bilden mehrheitlich nicht die Diversität der Gesellschaft ab, also verzerren sie das Bild durch politisches Sendungsbewusstsein.
Kommentar 166: Anonym schreibt am 10.02.2023, 07:03 Uhr :
Wenn der WDR, als öffentlich rechtlicher Sender, der natürlich damit auch Vorbildfunktion hat und mitbeeinflusst, wie Menschen denken, welche Meinung sie sich bilden und woran sie sich stören, seine Senderpolitik von Umfragen abhängig macht, ist das kein Anlass zur Freude. Es ist auch kein Ausdruck von Bürgernähe oder demokratischen Sprachverständnis, sondern ein Zugeständnis an den Mob. An die, die sich durch jegliche progressive Veränderung bedroht fühlen und am liebsten in die 50er zurück wollen, als alle Rollen noch schön klar verteilt waren. Statt sich selbst zu fragen: Was haben wir dazu beigetragen, dass auf einmal weniger Menschen bereit sind, auf sprachliche Inklusion zu achten? Medien haben einen großen Teil dazu beigetragen, die Debatte immer weiter zu polarisieren und die Fronten zu verhärten. Jetzt beugen sie sich der Wut, die sie selbst mit produziert haben. Nicht mehr mein Sender.
Antwort von Anonym , geschrieben am 12.02.2023, 15:46 Uhr :
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)
Kommentar 165: Mario Sedlak schreibt am 10.02.2023, 00:22 Uhr :
Genau das ist das Problem mit der Gender-Sprache: Der Überblick geht verloren. Inzwischen wird sogar schon von weiblichen Mitarbeiterinnen geschrieben, weil bei der ständigen Betonung der eigentlich irrelevanten Geschlechter die Leser anscheinend auf Durchzug schalten und gar nicht mehr wahrnehmen, wenn tatsächlich mal eine Frau gemeint ist. Ähnlich ist es, wenn durchgängig gegendert wird und dann z. B. von Soldat*innen berichtet wird, obwohl man gar nicht weiß, ob da eine Frau mitgekämpft hat. So macht die Doppelnennung mit Sternchen nicht Frauen sichtbar, sondern ist schlicht eine neue, umständlichere geschlechtsneutrale Bezeichnung. Meine Hoffnung ist, dass die Gender-Fans das irgendwann einsehen und auf die umständlichen sexistischen Endungen verzichten.
Kommentar 164: Robert M. schreibt am 09.02.2023, 22:29 Uhr :
Ich finde, die regelmäßige Verwendung von zwei Geschlechtern macht die Sprache auch sperrig und dient nicht der Verständlichkeit. Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten würde man doch im Alltag nie sagen… Sprache verändert sich, das stimmt. Ich wäre allerdings konsequenter und würde das Geschlecht in der deutschen Sprache komplett abschaffen - und die eine geschlechtsneutrale Form, die dann noch bleibt, sollte die einfachste Form haben, ohne Sternchen, Kombinationen oder ähnlichem.
Kommentar 161: Dennis K. schreibt am 09.02.2023, 18:02 Uhr :
Ich freue mich riesig, zu hören, dass das unsägliche Gendern beim WDR der Vergangenheit angehört. Ich kann mich absolut damit anfreunden, dass beide Geschlechter angesprochen werden, auch wenn ich glaube, dass es jedem bewusst ist, wenn wir von "der Gruppe Lehrern" sprechen, nicht nur männliche Lehrer gemeint sind. Aber auf der Arbeit sprechen wir auch von Kolleginnen und Kollegen, in sofern bin ich absolut fein damit. Hauptsache keine *, /, Innen, Pause, oder sonst so ein aufgesetzter Quatsch. Vielen Dank WDR, machen Sie weiter so.