Adventsbrief an den Kanzler: "Diese drei Zeitenwenden müssen Sie jetzt schaffen" | MEINUNG

Stand: 01.12.2023, 06:00 Uhr

Der Kanzler: am Tiefpunkt. Die Ampel nach der Roten Karte aus Karlsruhe: heillos zerstritten. Der Haushalt ab Januar: völlig offen. Olaf Scholz muss jetzt zeigen, dass er Kanzler kann, meint Ralph Sina.

Von Ralph Sina

Lieber Olaf Scholz,

ganz ehrlich: Ich kann Ihre Phrasen-Dreschmaschine nicht mehr ertragen. Ihre Mogelpackung mit dem Etikett "Regierungserklärung" nach der Klatsche von Karlsruhe war eine Zumutung. Fällig gewesen wäre eine zweite "Zeitenwende-Rede". Geliefert haben Sie stattdessen Beruhigungs-Sprechblasen vom Kaliber: "Alles ist und bleibt gut".

Die Rente ist sicher. Das Kindergeld auch. Und wer sich Sorgen macht, für den zitieren Sie bis zum Erbrechen den Lieblings-Song Ihrer Redenscheiber: "You’ll never walk alone". Vielleicht kann ihr Kanzleramtschef die Melodie in die Warteschleife Ihres Telefonsystems einspeisen.

Sinnvoller allerdings wäre es, wenn Ihnen sehr schnell klar würde: Mit dieser "Wir schaffen das"- Phraseologie à la Merkel provozieren Sie nur Wut und Ratlosigkeit. Sie machen sich im Bundestag zur Lachnummer. Ihre Autorität verfällt - im Rekordtempo. Das ist bedrohlich für dieses Land.

Wir Wähler sind nicht grenzdebil. Wir vertragen harte Wahrheiten. Und wir erwarten, dass ein Kanzler fähig ist zur Selbstkritik. Dass Sie in Ihrer Regierungserklärung ganz persönlich Verantwortung übernehmen, wenn die Haushalts-Tricks Ihrer selbsternannten "Fortschrittskoalition" von den höchsten deutschen Richtern als verfassungswidrig abgeschmettert werden.

Die Zeitenwende ist jetzt wirklich da!

Tatsache ist, lieber Olaf Scholz: Die bequeme Zeit des kollektiven Selbstbetrugs und der Schatten-Haushalte ist endgültig vorbei.

Rente mit 63, Mütter-Rente, Bürgergeld, Gas- und Strompreisbremse, die Kindergrundsicherung und Milliarden Subventionen für Mikrochip-Produzenten - alles steht ab sofort auf dem Prüfstand. Die Richter mit den roten Roben haben die Ampel und uns alle aus dem bequemen deutschen Schlaraffenland vertrieben.

"Knete für alles und alle" ist nicht mehr. Karlsruhe hat Sie und uns alle daran erinnert, dass sich die Regierung ans Grundgesetz halten muss. Sie haben diese Binse in Ihrer Regierungserklärung als "neue Realität" bezeichnet - für einen Juristen eine verblüffende Bewertung. Ralph Sina, Kolumnist

Ich möchte wissen, was Sie, lieber Olaf Scholz, und Ihre Ampel nach dieser Karlsruhe-Zeitenwende in den nächsten zwei Jahren schaffen wollen. Und woher das Geld kommen soll. Bisher wissen Sie es nicht. Sonst hätten Sie es uns erklärt in ihrer sogenannten "Regierungserklärung".

Fast eine Billion Euro Steuereinnahmen schaffen durchaus Handlungsspielraum. Aber sie reichen nach dem Verfassungsgerichts-Urteil dennoch nicht aus, um Ihre bisherige Ausgaben-Politik weiter zu finanzieren.

Auf nach Dubai!

Allein für den Haushalt 2024 fehlen nach Angaben von Finanzminister Lindner bereits 17 Milliarden Euro in der Staatskasse. Macht Ihrer Regierung aber nichts. Sie fliegen trotzdem mit ihrem Vize Habeck, plus Lindner, Außenministerin Baerbock und Umweltministerin Lemke samt 250 (!) Mitarbeitern zur Klimakonferenz ins sonnige Dubai. Auch eine Art von Regierungserklärung.

Milliardenloch? Egal, wir fliegen! Mit 250 Mitarbeitern. Schließlich müssen wir das Klima retten! Eine nonverbale Regierungserklärung der ganz besonderen Dreistigkeit. Glückwunsch, Kanzler Scholz! Glückwunsch, selbsternannte "Fortschrittskoalition". So viel Nerven muss man erst mal haben. Aber wenn Sie aus dem sonnigen Dubai zurückkommen, holt sie die Wirklichkeit wieder ein.

Jetzt ist echte Führung gefragt

Sie werden dann feststellen: Ihre bisherige Simpel-Strategie funktioniert nicht mehr. Die Gräben zwischen den Koalitionspartnern einfach mit immer neuem Geld zukleistern - das funktioniert nicht mehr. Sie müssen jetzt - durch das Verfassungsgericht gezwungen - in Zukunft echte Führungskompetenz zeigen!

Im Haushaltsjahr 2024 müssen Sie ganz konkret entscheiden, für was die Ampel auf Grün bzw. auf Rot schalten soll. Noch einmal die Schuldenbremse einfach auszuhebeln, bedeutet den Tod ihres Koalitionspartners FDP und ist mit der Merz-Opposition nicht machbar. Eine durchdachte Reform der Schuldenbremse ist kein Tabu. Ein erneutes Aushebeln durch fortgesetzt herbeibehauptete aktuelle Notlagen hingegen schon.

Das Verfassungsgericht hat Ihnen einen klaren Kompass an die Hand gegeben. Ab sofort ist Schluss mit dem Polit-Drehbuch "Nach uns die Sintflut". Wir können unsere Kinder und Enkel nicht unzumutbar belasten und ihrer Freiheit berauben. Weder durch unbegrenzte Schulden. Noch durch unbegrenzte CO2-Emissionen. Ralph Sina, Kolumnist

Ob Sie, lieber Olaf Scholz, das nötige Format zum Zeitenwende-Kanzler haben, werden die nächsten Wochen zeigen. Ehrlich gesagt: Ich bin skeptisch. 

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich sehe sehr wohl Ihre Leistungen in diesen extrem herausfordernden beiden ersten Regierungsjahren. Sie als Kanzler und die Ampel haben ihr grundsätzliches Potential zum Mega-Krisen-Management nach Putins Überfall auf die Ukraine unter Beweis gestellt. Deutschland kam gut durch den letzten Winter und ist der zweitwichtigste militärische Alliierte der Ukraine. Aber gerade vor dem Hintergrund dieser Leistungen fand ich Ihren letzten Auftritt im Bundestag besonders schwach.

Weitere Herausforderungen warten

Dabei ist gerade jetzt Ihre Stärke gefordert! Nicht nur mit Blick auf den Haushalt und die Zukunftsinvestitionen bei angezogener Schuldenbremse.

Angesichts der Möglichkeit, dass im Herbst nächsten Jahres Trump erneut ins Weiße Haus gewählt wird, kommen auf uns noch ganz andere gewaltige Herausforderungen zu. Die Zeiten des schützenden Alliierten USA können für Deutschland schnell vorbei sein. Darauf muss sich die Ampel einstellen. Putin wartet nur auf ein Comeback Trumps.

Auch ohne dass es zu diesem Thema ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt: Meine Kinder und Enkel haben das Recht, in Deutschland in Frieden zu leben. Und nicht in permanenter Angst vor einem atomar bewaffneten Aggressor!

Diese drei "Zeitenwenden" brauchen wir jetzt

Deutschland steht aus meiner Sicht vor drei Zeitenwenden gleichzeitig - so viel Wende war noch nie!

Zeitenwende Nummer 1: Der ökologische Umbau der Wirtschaft
Konkret mit Blick auf NRW: Wo kommen nach dem Karlsruher Urteil zum Beispiel die Milliarden für den grünen Stahl von Thyssen-Krupp in Duisburg her?

Zeitenwende Nummer 2: Sozialleistungen prüfen
Das Karlsruher Urteil zwingt alle Sozialleistungen auf den Prüfstand. Im Vergleich dazu war Hartz IV eine Fingerübung. Und selbst die hatte ihren sozialdemokratischen Vorgänger schon das Amt gekostet. Und Gerhard Schröder war mit Sicherheit kein "Klempner der Macht". Sondern ein Macht-Besessener.

Zeitenwende Nummer 3: Nuklearer Schutz
Deutschland muss sich in Kooperation mit den Atommächten Frankreich und Großbritannien um seinen nuklearen Schutz kümmern. Selbst wenn der nächste US-Präsident nicht Trump heißt: Auf den Beistand von Uncle Sam ist auf Dauer kein Verlass mehr.

Angesichts dieses Drucks wird sich sehr schnell zeigen, ob die zerstrittene Ampel in Berlin durch diese gigantischen Herausforderungen zusammengeschweißt wird.

Lieber Olaf Scholz, ich hoffe, dass Sie sich in der zweiten Ampel-Halbzeit endlich als entschlossener Dirigent entpuppen. Der einen Plan plus die nötige Autorität entwickelt, um die zur Kakophonie neigenden "Berliner-Ampel-Symphoniker" überzeugend aufspielen zu lassen.

Klar ist für mich eines: Ein weiteres Spiel auf Zeit kann sich der stotternde Motor Europas namens Bundesrepublik nicht leisten.

Auf Sie, den Kanzler, kommt es in dieser neuen Phase der knappen Staats-Kasse und dreifachen Zeitenwende jetzt mehr an denn je! Sonst enden die Landtagswahlen und die Europawahl im kommenden Jahr in einem Desaster.

Die Bundesrepublik hat einen tatkräftigen Olaf Scholz mit klarem Konzept verdient. Ich hoffe, es gibt ihn!

Was denken Sie? Schafft Bundeskanzler Olaf Scholz die von unserem Kolumnisten geforderten "Zeitenwenden"? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

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Kommentare zum Thema

  • Anonym 05.12.2023, 16:38 Uhr

    In D gilt Deutsch bereits als Fremdsprache , besonders Kinder von Migranten aus Entwicklungs-und Schwellenländern , die in der Grundschule bereits in der Mehrheit sind , zeigen laut aktueller Pisa-Evaluation nur dürftigste Bildung ! Diese Probleme sind die künftigen Probleme in der Berufswelt, im gesellschaftl. Miteinander und mindestens zig Billionen Euro teuer , hochgerechnet auf die nächste volle Dekade ! Fast alle konnten sich das ausrechnen, besonders aber die sog. Volksvertreter und ihre,für zig. Millionen Euronen teuer in die Ministerialbürokratie eingekauften ext. Berater, die dort nicht nur beraten, sondern auch gleich die gesamten Reden und Gesetzesvorlagen schreiben, habens angeblich jetzt nicht gewußt und ziehen jetzt alle die "Naiv-und Doof-Karte" ! Auch diese Strategie ist dreist gelogen !

    • Anonym 06.12.2023, 23:09 Uhr

      Wenn wir hier schon bei PISA , der Qualtiät unserer sog. Volksvertreter. die meinen uns "retten zu können", sind , sei festgestellt, daß seit Anfang der 1960er Jahre, als der Philosoph in D die "Bildungskatastrophe" ausgerufen hatte, die Leistungsanforderungen in den Schulen , den Berufs-/Hoch- schulen permanent bis zum heutigen Tag sukzessive erodiert worden sind, also über eine Periode von 6 Dekaden. Dadurch wollte man ürsprünglich breiteren Volks Schichten Bildung ermöglichen. Der Kolumnist hat ja studierter Pauker und müß das wissen. Aber trotz dieses lange Zeit gravierend gesenkten Leistungsniveaus haben viele aktuelle Spitzenpolitiker noch nicht einmal eine erfolgreiche Berufsausbildung gepackt: Ich sage z.B. nur Ricarda,Kevin,KGE,Claudia Roth. Was sagt uns das ? PISA gilt nicht nur für Jugendliche in D , sondern gilt heute generell ; für die Politik ein durchaus gewünschter Zustand, denn je dümmer ihre Wahler, umso leichter sind sie auch zu manipulieren ! Armes D.

    • Anonym 07.12.2023, 08:12 Uhr

      Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

    • Anonym 07.12.2023, 09:23 Uhr

      Wie wir spätestens aus dem Filmklassiker "DieFeuerzangenbowle" gelernt haben, "ist es mit der Schule. wie mit der Medizin; sie muß bitter schmecken, sonst nützt sie nichts". Bildung muß man sich zum großen Teil selbst hart erbüffeln, indem man selbst hart an sich arbeitet , z,B. Vokabeln , Grammatik lernt zeitfüllend lernt . Selbst diese Grundvoraussetzung jeder erworbener Bildung haben besonders Sozis und Grüne so gut wie vollständig über Bord geworfen. Sie sind sogar so heftig "divers", daß sie sich häufigst lieber selbst in Schul-/Berufsausbildung nach vielen vielen Jahren fruchtlosen Verweilens ,z.B.in der Alma Mater, lieber durchrasseln lassen, als dort irgend etwas Zählbares zustande zu bringen. Aber gleichwohl meinen sie . uns besonders in TV-Talk-Shows die Welt erklären und dann retten zu können. Das ist die Höchststrafe für uns Michels !

  • M. Lechmann 05.12.2023, 13:27 Uhr

    1: Der ökologische Umbau der Wirtschaft: Alle Regierungsparteien der letzten Jahre kann man wohl als Leugner des Klimawandels bezeichnen. Vielleicht nicht immer in ihren Worten, aber in ihren Taten. Und auf die Taten kommt es an. 2: Sozialleistungen prüfen: Privatisierung durch Helmut Kohl , Agenda 2010 durch Schröder, und „Weiter so“ durch Merkel haben eine Umverteilung von Arm zu Reich bewirkt. Die Politik der aktuellen Regierung in Umwelt- und Industriepolitik belastet die Armen stärker als die Reichen (10 Milliarden für eine Chipfabrik). Die Folgen des Ukraine Kriegs gehen in die Milliarden. Waffenlieferung, Sanktionen gegen die Deutsche Wirtschaft, und Migration zahlen zum großen Teil die Armen und Mittelschicht. Von den Umweltschäden, die diese Wachstumspolitik erzeugt, ganz zu schweigen. 3: Nuklearer Schutz: Bomben statt Schulbrot? Eine Entspannungspolitik à la Willy Brandt wäre seit 1989 für Umwelt, Soziales und Frieden nötig gewesen. Die Mächtigen haben es nicht gewollt

  • A. Wilf 04.12.2023, 14:45 Uhr

    (3) Die Schuldenbremse ist ein neoliberales Zwangsinstrument und war von Anfang an umstritten. M. E. hätte sie niemals Verfassungsrang bekommen dürfen. Jetzt ist sie der Regierung voll auf die Füße gefallen. Man kann nur hoffen, dass sich eine Mehrheit für eine signifikante Modifikation findet. Was Herrn Sinas Zeitenwenden angeht: Es scheint bei einflussreichen Leuten ausgemachte Sache zu sein, Sozialleistungen anpassen, sprich kürzen zu wollen, darunter diesmal nicht nur die üblichen Verdächtigen Söder und Merz, sondern auch z.B. Hr. Djir-Sarai von der regierungsinternen Opposition. Ich kann es nicht mehr hören, das Narrativ von der "harten Arbeit, die sich lohnen muss". Damit spielt man nur unten gegen ganz unten aus. Man muss hier der Regierung zugute halten, dass sie für die Erhöhung des Mindestlohns eintritt. Sozialleistungen sind nicht nachhaltig: einmal konsumiert, ist das Geld weg. Deshalb sollten Sozialleistungen nicht aus Krediten gezahlt werden.

    • A. Wilf 04.12.2023, 20:47 Uhr

      Mein Schluss ist anscheinend verloren gegangen, hier trage ich ihn nach: --- (3a) Hier muss man sehr sorgfältig prüfen, wie man die Sozialausgaben solide finanziert. Das wird nicht ohne Erhöhung der Staatseinnahmen gehen, das heißt, durch Steuererhöhungen. Die Partei der Besserverdienenden muss ihrer Wählerschaft klarmachen, dass es in der Krise für sie kein Ausruhen in der Komfortzone gibt. Die Oberen Zehntausend sind auch verantwortlich dafür, dass die unteren Millionen nicht unter das Existenzminimum sinken. Das wird den Herren Lindner, Djir-Sarai, Söder, Merz und Co. nicht gefallen. Es gilt aber nicht nur eine Finanzkrise zu bewältigen, sondern auch die Menschen im Lande bei der (demokratischen) Stange zu halten. ---Außerdem fehlen die ersten beiden Kommentare zum Thema, die ich hier anhänge