"Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen": Allianz-Chef Oliver Bäte zeigte sich im "Handelsblatt" unzufrieden mit der Anzahl der Krankheitstage hierzulande. Er beklagt die dadurch entstehenden Kosten im Sozialsystem und machte einen Vorschlag, um Arbeitgeber und Krankenkassen zu entlasten: Die Kosten für den ersten Krankheitstag sollten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst tragen. Mit einem solchen Karenztag könnten laut Bäte pro Jahr 40 Milliarden Euro eingespart werden.
Bäte schlägt damit in dieselbe Kerbe wie viele Konservative aus Politik und Wirtschaft: Deutschland sei auf dem absteigenden Ast und habe gerade im wirtschaftlichen Bereich seine Anpacker-Mentalität verloren. So sagte etwa CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann Mitte Dezember bei RTL: "In Deutschland gibt es gar keine Leistungsbereitschaft mehr." Auch der "Spiegel" fragte in einem Artikel: "Ist Deutschland ein Paradies für Blaumacher?"
Neue Erfassungsmethode sorgte für Anstieg der Krankmeldungen
Als Argument dienen dabei oft die Statistiken, in denen die Krankheitstage erfasst werden. Unklar war zunächst, wie Bäte auf die Zahl von durchschnittlich 20 Krankheitstagen in Deutschland kam, die er bemängelte und die Deutschland angeblich zum "Weltmeister" macht.
Zwar kamen nach einer Statistik der Krankenkasse DAK-Gesundheit 2023 weit über die Hälfte der bei ihr Versicherten mindestens auf eine Krankschreibung, im Gesamtjahr waren es im Schnitt 20 Fehltage pro Person. Das Statistische Bundesamt erfasst zwar Krankheitstage, in der Regel allerdings nur solche, für die mehrtägige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt wurden. Hier lag der Wert im Jahr 2023 bei 15,1 Krankheitstagen, Zahlen von 2024 liegen noch nicht vor. Eine deutschlandweite Statistik über Krankmeldungen ohne ärztliches Attest existiert nicht.
Tatsächlich zeigt sich in den Zahlen des Bundesamts ein Zuwachs in den vergangenen Jahren bei den Krankheitstagen, die auf mehrtägigen AU-Bescheinigungen basieren. Besonders seit 2021 geht die Kurve steil nach oben. Das hat allerdings laut dem Leibniz-Institut für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) nichts mit einer höheren Bereitschaft zum Blaumachen zu tun. Sondern mit einer neuen Statistik: Seit 2022 werden Krankmeldungen in Deutschland von den Arbeitgebern automatisch an die Krankenkassen weitergeleitet, vorher geschah das nur auf freiwilliger Basis.
Auch die DAK betont, die gestiegenen Zahlen seien nicht darauf zurückzuführen, dass Beschäftigte "blaumachen". Grund für den sprunghaften Anstieg der Fehltage seien neben dem neuen elektronischen Meldeverfahren Erkältungswellen. DAK-Vorstandschef Andreas Storm forderte eine offene Debatte über die tatsächlichen Ursachen des Krankenstands und warnte vor einer "Misstrauenskultur in der Arbeitswelt".
Work-Life-Balance wird wichtiger
Wissenschaftler sehen eine Vielzahl von Gründen für die steigenden Zahlen: Neben gehäuften psychischen Krankheiten, ausgelöst durch Pandemie, Kriege und globale Krisen setze sich langsam auch ein neues Bewusstsein für Gesundheit durch. So gebe es "veränderte Einstellungen zur Work-Life-Balance", sagt die Arbeitspsychologin Carolin Palmer: "Die arbeitsverklärende Sicht, dass gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch krank noch etwas leisten, bröckelt langsam – und das ist gut so!"
Internationaler Vergleich der Krankentage schwierig
Wie die Erfassung in anderen Ländern läuft, mit denen Allianz-Chef Bäte Deutschland vergleicht, ist unklar. Ein Vergleich erscheint aufgrund der unterschiedlichen Arbeits- und Sozialsysteme allerdings schwierig. So gibt es beispielsweise in Schweden die Möglichkeit einer teilweisen Krankschreibung, die dann nur für bestimmte Tätigkeiten, Orte oder Zeiträume gilt.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht jedenfalls keinen erhöhten Krankenstand in Deutschland. 2023 fehlten laut OECD-Statistiken in Deutschland Beschäftigte im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit wegen einer Krankheit. In Frankreich liege der Wert noch etwas höher, in Belgien und Schweden auf dem gleichen Niveau, in Österreich und den Niederlanden niedriger.
Krank zur Arbeit? Laut DGB "weit verbreitet"
Doch auch abgesehen davon, ob Deutschland nun im internationalen Vergleich der Krankheitstage gut, schlecht oder durchschnittlich abschneidet, führt die aktuelle Debatte laut Arbeitnehmervertretern in die falsche Richtung. Schon jetzt gingen immer noch zu viele Angestellte zu oft krank zur Arbeit, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel bei ntv. "'Präsentismus', also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet", so Piel. Auch das Statische Bundesamt stellte fest: "Insbesondere in konjunkturellen Schwächephasen gehen die Krankmeldungen zurück."
Aus Angst vor beruflichen Nachteilen und aus Pflichtgefühl schleppen sich offenbar viele krank zur Arbeit, stecken womöglich Kolleginnen und Kollegen an und brauchen länger, bis sie wieder gesund sind.
CDU uneins über Vorschlag
Auch in der CDU schlägt Bätes Vorschlag Wellen. Unionsfraktions-Vize Sepp Müller sagte dem Onlineportal Politico, Deutschlands Sozialsysteme würden "immer weiter beansprucht". Aus diesem Grund "sollten wir uns meiner Meinung nach nicht vor neuen Ideen verschließen und diese diskutieren". Auch wenn das Thema der Karenztage sich nicht im Wahlprogramm der CDU finde, "könnte dies ein altbewährter Ansatz sein". Die Arbeitnehmervereinigung der CDU ist dagegen, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. "Dieser Vorschlag ist gänzlich inakzeptabel", sagte der Vorsitzende Dennis Radtke dem "Tagesspiegel". Er sprach von einer "Kultur des Misstrauens gegenüber allen Arbeitnehmern" und einem "Klassenkampf von oben".
Ist der Krankenstand ein Wachstumskiller?
Der Mercedes-Chef Ola Källenius sprang Bäte in der "Bild"-Zeitung bei und nannte den hohen Krankenstand "ein Problem". Andere deutsche Unternehmen sehen die Lage offenbar anders. So befragten die Wirtschaftsprüfer EY im vergangenen Herbst 115 Manager in Deutschland nach den Gründen, die sich nachteilig auf das Wirtschaftswachstum in Deutschland auswirkten. Ganz oben standen dabei Bürokratie (70 Prozent), Fachkräftemangel (57 Prozent) und falsche politische Entscheidungen (49 Prozent). Den Krankenstand sahen hingegen nur 6 Prozent der Befragten als Problem.
Unsere Quellen:
- Nachrichtenagenturen dpa, KNA, AFP
- Handelsblatt
- ntv
- Tagesspiegel
- Bild
- EY-Studie "Die Zukunft der deutschen Wirtschaft 2024"
- Statistisches Bundesamt
- Leibniz-Institut für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)
- OECD-Statistik "Absence from work due to illness"
- TH Köln: Interview mit Carolin Palmer