Die Corona-Krise hat die miesen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in den Fokus gerückt. Laut Stefan Sell, Sozialwissenschaftler und Arbeitsmarktexperte an der Hochschule Koblenz, sind die Probleme seit Jahren bekannt.
WDR: Herr Sell, überrascht es Sie, dass jetzt die Schlachthöfe in der Kritik stehen?
Stefan Sell: Nein, das überrascht mich überhaupt nicht. Ich muss leider daran erinnern, dass wir hinsichtlich der Schlachthöfe bereits seit Jahren eine Vielzahl an kritischen Stellungnahmen gefertigt haben. Dabei geht es um Arbeitsbedingungen aber auch Strukturprobleme.
Schon seit Jahren ist bekannt, dass dort im großem Umfang Werkverträge eingesetzt werden - vor allem mit osteuropäischen Arbeitnehmern -, die teilweise zu hanebüchenen Bedingungen in diesen Fleischfabriken arbeiten müssen. Der Bundestag hat vor geraumer Zeit sogar ein Schutzgesetz verabschiedet, um den Missbrauch bei den Werkverträgen einzudämmen.
WDR: Das Gesetz hat aber offenbar nichts bewirkt, oder?
Sell: Es ist sogar noch schlimmer. Das Schutzgesetz sollte ja die eigentlichen Profiteure, also die Fleischunternehmen, in die Pflicht nehmen. Wenn die Werkvertragsunternehmen die Sozialabgaben nicht korrekt zahlen, dann sollten die Auftraggeber dran sein. Das Problem ist: Wo kein Richter, da kein Henker.
Nach der Verabschiedung des Gesetzes im Jahr 2017 ist die Zahl der Kontrollen um über 50 Prozent zurückgegangen. Das zeigt, dass hier vor allem kosmetische Politik betrieben wurde.
WDR: Was steckt dahinter?
Sell: Die großen Fleischfabriken haben sicher großen Einfluss auf die Politik - auch in Nordrhein-Westfalen. Gerade die deutschen Schlachthöfe stehen für einen Trend, den wir auch in anderen Bereichen der Volkswirtschaft haben. Der heißt, entweder lagern wir Produktion in billige Länder aus oder wir importieren billige Arbeit.
Das hat dazu geführt, dass Deutschland mittlerweile in Europa das Billig-Schlachthaus Nummer eins geworden ist. Es ist eine brutale Form der Globalisierung.
WDR: Wird man jetzt, aus der Krise heraus, grundsätzliche Veränderungen in die Wege leiten?
Sell: Ich würde es mir sehnlichst wünschen. Aber ich bin sehr skeptisch. Ob es nun um Lkw-Fahrer geht, um Pflege oder Schlachthöfe: Wir haben ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Ein Beispiel: Weniger als zehn Prozent der Angestellten im Einzelhandel sind in einer Gewerkschaft organisiert. Verbesserungen fallen nun einmal nicht vom Himmel.
Das Interview führte Judith Schulte-Loh, WDR 5 Morgenecho.
Das Gespräch wurde für die Online-Version gekürzt und sprachlich bearbeitet.