Schritt für Schritt kehrt Deutschland zurück zur Normalität: Keine Masken mehr, keine Testpflicht, Essen beim Lieblingsrestaurant und Schwimmen im Freibad sind auch wieder erlaubt. Was bei vielen für allerbeste Laune sorgt, macht Gesundheitsexperten Sorgen: Für sie kommen die Lockerungen wegen der Delta-Variante des Coronavirus viel zu früh.
Nichts aus den Fehlern gelernt?
"Wir machen die gleichen Fehler nochmal", wird im "Spiegel" der Physiker Dirk Brockmann zitiert, der Corona-Modellrechnungen erstellt. Und er meint damit die vielen parallelen Lockerungen. Die gab es auch schon im vergangenen Jahr, als Kontaktverbote, Maskenpflicht und Lockdown kein Thema mehr waren, weil die Inzidenzen sanken. Damals ein Fehler, denn kurz nach den Lockerungen stiegen die Fallzahlen wieder.
"Freiheits-Cowboys" ohne Plan
Auch Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann ist erbost: Die Politik handele schon wieder ungeduldig und ohne einen Plan zu haben, was bei steigenden Fallzahlen zu tun sei. Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sprach im WDR sogar von "Freiheits-Cowboys", die lieber Lockerungen verkünden wollen - und meint damit die Politiker im Wahlkampf.
Die Delta-Variante: Schnell und wohl gefährlich
Hintergrund: Die Mutante, mit der sich in Großbritannien so viele Menschen anstecken, dass das EM-Finale gefährdet ist, breitet sich offensichtlich rasch aus - sechs Prozent aller Corona-Fälle waren in der vergangenen Woche in Deutschland darauf zurückzuführen. Das ist scheinbar wenig, aber doppelt so viel wie in der Woche davor. Inzwischen liegt die Zahl bei zehn Prozent, und das bei sinkender Inzidenz.
Auch in NRW gibt es Fälle: in Nettetal und im Hochsauerland-Kreis. In Werl musste eine Schule wegen Verdachtsfällen geschlossen werden. Und: Die Variante bringt die Infizierten offensichtlich schneller ins Krankenhaus als die anderen Mutanten. Zudem trifft sie auch Jüngere.
So könnte die Mutante ausgebremst werden
Die vierte Welle wäre dann eine, in der die aggressivere Delta-Variante vorherrscht. "Für den Sommer bin ich noch hoffnungsvoll, wenn wir uns nicht mit den Urlaubern zu viele Fälle ins Land holen", sagt der Immunologe Carsten Watzl im WDR-Fernsehen. Im Herbst werde die Welle aber kommen. "Wie hoch die wird, hängt davon ab, wie viele geimpft sind." Denn die doppelte Impfung scheint die Variante gut in Schach zu halten, wie britische Studien zeigen - egal, ob mit Astrazeneca oder Biontech.
Allerdings haben noch nicht alle Deutschen ein Impfangebot bekommen. Deswegen sollte man weiter eine Maske tragen, allein schon aus Gründen der Fairness, appelliert Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU). Das gilt auch für die anderen AHA-Maßnahmen, also Abstandhalten und Hygiene.
Analysieren, nachverfolgen, stoppen
Außerdem setzen Politiker neue Hebel an. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will alle positiven PCR-Tests analysieren lassen und nicht nur Stichproben ziehen, um so die Ausbreitungswege besser verfolgen zu können.
Im Labor wird die Probe sequenziert
Genau das passiert in Düsseldorf, wo seit dem Frühjahr eine Pilotstudie läuft: Am Uni-Klinikum werden die Laborproben innerhalb von 48 Stunden analysiert und die Ergebnisse ans Gesundheitsamt weitergeleitet. Fazit bisher: Alle Düsseldorfer Patienten haben sich im Ausland angesteckt, ohne dass sie in der Stadt für weitere Ansteckungen gesorgt haben.
Grenzschließungen sind zwar trotzdem in diesem Fall nicht sinnvoll, weil die Mutante schon längst im Land angekommen ist. Aber mögliche Infektionsketten könnten auf diese Art schnell gestoppt werden.
Nicht diskutieren, agieren
Und auf Schnelligkeit kommt es an: Wenn eine neue Variante kommt, müsse man "sehr schnell sehr früh regionaldifferenziert agieren und nicht erst überlegen, ob sich diese Variante durchsetzt", beschreibt es Modellierer Dirk Brockmann im WDR. "Das ist eine einmalige Chance, Zahlen auf niedrigem Niveau zu halten, damit man sinnig öffnen kann."
Brockmanns Fazit: Schnell reagieren statt diskutieren und vor allem die Sommermonate nutzen. Denn noch sind die Zahlen niedrig - im Herbst könnte es dann schon zu spät sein.