22.09.2024 – Händel, "Il trionfo del tempo e del disinganno" bei Festival Alte Musik Knechtsteden
Stand: 22.09.2024, 09:30 Uhr
Letztes Jahr hatte sich Hermann Max im Alter von 82 Jahren als Gründer, Leiter und Hauptdirigent des Festivals Alte Musik Knechtsteden verabschiedet. Es war schnell klar, dass das Festival weitergehen soll, was nicht selbstverständlich ist. Ensembles wie Musica Antiqua Köln oder Cantus Cölln haben aufgehört zu bestehen, als deren Gründer sich zurückzogen.
Der neue Leiter Michael Rathmann, der schon in der Vergangenheit organisatorisch involviert war, hat sich ein neues Konzept mit artists in residence überlegt. Das ist im Jahr 2024 die Blockflötistin Dorothee Oberlinger, die seit einigen Jahren verstärkt als Dirigentin auftritt und selbst zwei Festivals (in Bad Arolsen und Potsdam) leitet.
Sie dirigierte im Eröffnungskonzert ihr Ensemble 1700 mit dem Oratorium "Il trionfo del tempo e del disinganno", eines der populärsten Stücke von Händel.
Oberlinger knüpfte damit zwar nicht an die Tradition von Hermann Max an, dem es um Neuentdeckungen von unbekannten Werken aus dem Repertoire der Alten Musik, aber in der Weise, wie Händel in der Basilika von Knechtsteden zu hören war, wirkte es doch wie eine Neuentdeckung.
Das fing schon mit der Besetzung der Gesangssolisten an: drei Männer und eine Frau, statt wie sonst drei Frauen. Und im höchsten Stimmfach der phänomenale Sopranist Dennis Orellana als Bellezza, der über ein volltönendes, makelloses Timbre verfügt, das dem einer weiblichen Sängerin in nichts nachsteht. Er wirkt so überhaupt nicht wie ein Countertenor (und ist es wohl auch nicht). Er war der Mittelpunkt der Aufführung, auch in der Weise wie er auftrat, in seiner anmutigen, jünglingshaften Erscheinung.
In der Arie "Un pensiero nemico" sagt er der allegorischen Figur der Zeit (Tempo) den Kampf an, so dass man als Zuhörer angesichts der rasanten Virtuosität völlig perplex ist. "Il tempo" wurde in Knechtsteden vom englischen Tenor Laurence Kilsby verkörpert. Er hat eine strahlende, kraftvolle Stimme, mit der er in seiner Arie "Folle, dunque tu sola" der Bellezza mit Verdi-Pathos zuruft, sie sei eine Närrin, wenn sie glaube, die Vergänglichkeit gelte für sie nicht. Laurence Kilsby ist für die Alte-Musik-Szene eine echte Bereicherung. In dieser Arie spielt das Orchester ein spitzes, aggressives Staccato als rhetorischen Gegen-Kommentar zum Gesang.
Darin bestand die Qualität der musikalischen Leitung von Dorothee Oberlinger. Für jede Nummer entwickelte sie eine klare Tempovorstellung, führte die Instrumente zu einer musikalische Eigenständigkeit, ließ sie gewissermaßen jeweils einen neuen eigenen musikalischen Text formulieren. Und man zeigte Spielfreude und ungewöhnliche Präzision, z. B. auch in "Lascia la spina". Francesca Lombardi Mazzulli als Piacere schmiegte sich an die Instrumente, die die berühmte Nummer in einem überraschend dunklen Klang tönen ließen. Sängerin und Orchester reagierten so sicher aufeinander, so dass Mazzulli im Da Capo ihre leichten Verzierungen träumerisch nachdenkend von sich geben konnte.
Der dritte Mann an diesem Abend war der junge Countertenor Alois Mühlbacher in der Rolle der Vernunft (Disinganno), der mit seinem angenehmen Timbre und seiner tragfähigen Stimme so etwas wie einen Ruhepol bildete.
Vor Jahren (2011) hatte Hermann Max einmal versucht, in Knechsteden die h-Moll-Messe mit einem neuartigen Interpretationsansatz plastischer zu gestalten, indem er die Solisten und Choristen dazu anhielt, ihren Gesang durch barocke Gesten zu unterstützen. Das war interessant, aber nicht als musiktheatralische Aktion gedacht. Ganz anders nun bei Händel, denn der Regisseur Nils Niemann machte aus den allegorischen Figuren echte Personen, die sich auf dem schmalen Streifen vor dem Orchester bewegten und allerlei Requisiten in der Hand hielten, den Spiegel der Erkenntnis, den Spiegel der Täuschung oder ein von Strahlen umkranztes Herz, das Bellezza von der Vernunft empfängt und damit wie ein geläuterter Tamino in der "Zauberflöte" erschien. In dieser Weise rückte Niemann das Stück unaufdringlich in die Nähe des allegorischen Lehrtheaters, von dem es im Barock nicht nur bei Händel weitere Beispiele gibt und bis hin zu Mozarts "Die Schuldigkeit des ersten Gebots" oder eben der "Zauberflöte" reicht. So viel Operngeist ist tatsächlich neu beim Festival Alte Musik Knechtsteden.
Festival Alte Musik Knechtsteden am 21.09.2024 (einzige Aufführung)
Besetzung:
Bellezza: Dennis Orellana
Piacere: Francesca Lombardi Mazzulli
Disinganno: Alois Mühlbacher
Tempo: Laurence Kilsby
Ensemble 1700
Musikalische Leitung: Dorothee Oberlinger
Szenische Gestaltung: Nils Niemann