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Georg Nigl in: "Die Kreide im Mund des Wolfs" an der opera stabile Hamburg.

29.01.2025 – Gordon Kampe und Dieter Sperl, "Die Kreide im Mund des Wolfs" an der opera stabile in Hamburg

Stand: 29.01.2025, 09:30 Uhr

Die Hauptperson ist die Sprache, heißt es in den dramaturgischen Erläuterungen zu dem Stück "Die Kreide im Mund des Wolfs" des Autors Dieter Sperl und des Komponisten Gordon Kampe. Es ist ein Stück über Wladimir Putin bzw. über seine Art der Propaganda-Rede, das jetzt an der Opera stabile in Hamburg uraufgeführt wurde, übrigens dreieinhalb Jahre nach der Oper "Playing Trump" am selben Ort.

Die Hauptperson ist nicht Putin. Er tritt gar nicht auf, sondern ein Raumpfleger, der den Audienzsaal, in dem dieser berühmt-berüchtigte Riesentisch im Kreml steht, reinigt. Dieser Mensch hält plötzlich ein Manuskript mit Versatzstücken aus Putins Reden in der Hand, setzt sich an den Tisch und fängt an, daraus zu lesen. Und jetzt kommt der Sänger und Sprachkünstler Georg Nigl ins Spiel, der quasi zum dritten Autor wird. Zusammen mit einem achtköpfigen Kammerorchester betreibt er in den nächsten 90 Minuten eine grandiose Zerlegung, Analyse und Versinnbildlichung der Putin‘schen Sprache, aber nicht akademisch, sondern stimmlich-körperlich.

Immer wieder werden einzelne Wörter isoliert und akzentuiert, z. B. das Wort Russland in einer Staccato-Salve auf mit bedrohlich rollendem R. Aus Putins Rede im Bundestag 2001 wird der Satz "Die Mauer existiert nicht mehr" als "Vladiboogie" gespielt und zur Überwindung von Europas Spaltung spielen die Bläser sanfte und schräge Glissandi. Es werden Zitate aus "Schwanensee" eingestreut und von russischen Volksliedern. Und auf den Satz, dass Deutschland Russlands wichtigster Wirtschaftspartner sei, singt Nigl im Polka-Rhythmus in grotesk anmutender Kopfstimme. Später bei den Rechtfertigungstiraden zum Ukrainekrieg steigert sich der Sänger in eine verzückte Trance hinein und endet im irren Schreien. Ganz zum Schluss steht Georg Nigl (der – wie gesagt – nicht Putin verkörpert) auf und lässt die Stimme volltönend, hymnisch in den Saal strömen. Man hört einen Knall wie bei einem Bombenangriff und Kleider (von Opfern?) stürzen auf den Tisch. Es kommt noch ein kurzes Pfeifen und eine zarte Begleitung aus dem brillant spielenden Kammerorchester, das sich unter Leitung von Tim Anderson kommentierend, karikierend und illustrierend ganz nah an die Nigls Stimme fügt, der sich wieder den Putzmantel anzieht und das Manuskript in die Tonne wirft.

Das Ganze ist zwar eine Exegese der sprachlichen Propagandamittel, aber eben keine Doktorarbeit. Als Zuschauer ist man auch erstaunt und erregt und so wie Georg Nigl die Wörter und Sätze förmlich zelebriert, spürt man die sinnliche Wirkung von Propaganda und ist irritiert.

Gordon Kampe sagte, er hätte das Stück nur komponieren können mit einer inneren Distanz. Geholfen habe, dass er keine psychologische Musik habe schreiben müssen. Seine Methode bestand darin, den Text in 31 kurze, zweiminütige "Reden" aufzuteilen und dann mit musikalischen Chiffren zu arbeiten: satirische Nummern, dunkle bedrohliche, verfremdete Instrumente wie ein Kneipenklavier oder "garstige" Streicher. Als Vortragsbezeichnungen findet man "bescheuert", "kantig", "krass", "irre".

Herausgekommen ist ein zugleich erhellendes wie ergreifendes Kunstwerk, das vom Staatsopernintendant Georges Delnon zurückhaltend szenisch eingerichtet wurde.

Uraufführung: 25.01.2025, besuchte Vorstellung: 28.01.2025, noch bis zum 02.02.2025

Besetzung:
Bariton: Georg Nigl

Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg

Musik: Gordon Kampe
Text: Dieter Sperl
Musikalische Leitung: Tim Anderson
Szenische Einrichtung: Georges Delnon
Licht: Siegmund Hildebrandt
Spielleitung: Fitore Kajtazi
Dramaturgie: Klaus-Peter Kehr