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30.01.2025 – Michael Wertmüller, "Echo 72. Israel in München" in Hannover

Stand: 30.01.2025, 13:50 Uhr

Vor 300 Jahren schrieb Metastasio mit "L’Olimpiade" ein von vielen Komponisten – darunter Vivaldi und Caldara – vertontes Libretto. Danach hat es wohl keine Olympia-Oper mehr gegeben bis zu Michael Wertmüllers Oper "Echo 72. Israel in München" auf einen Text von Roland Schimmelpfennig, uraufgeführt in Hannover. Ging es bei Metastasio um Liebesbeziehungen, Freundschaften und Täuschungen im Umfeld der antiken Spiele, rekurriert Schimmelpfennig auf München und die Geiselnahme israelischer Sportler.

Ein gutes Libretto – die Handlung selbst mag wie bei Metastasio noch so verworren sein – rückt menschliche Leidenschaften, Motive und Konflikte in den Mittelpunkt. Schimmelpfennig lässt das grausame Geschehen vom September 1972 nur quasi chronistisch von einer Person namens "Die Klage" referieren, und Wertmüller vertont das als Sprechgesang, der von Idunnu Münch vorgetragen wird oder verlegt es in ein Videozuspiel (Corinna Harfouch als Nachrichtensprecherin). Die Geiselnahme als Drama zwischen Menschen findet nicht statt.

Stattdessen erzählt das Stück von den Sportarten, die die israelischen Geiseln ausübten: Hürdenlauf, Sportschießen, Gewichtheben, Ringen, Fechten. Dazu gibt es ausführliche, gesungene Erläuterungen: Hürdenlauf sei wie Fliegen, Gewichtheben zerstöre die Gelenke, sagt die schwangere Ehefrau des Athleten, der Schütze denkt über fehlgeleitete Geschosse nach, das Fechten sei wie ein Tanz. Und die Ringer sind nicht länger Gegner, sondern verlieben sich ineinander. Umrahmt wird das von einem Chor, der Ereignisse der Olympischen Spiele von 1972 in Erinnerung ruft, etwa den Einzug der 121 Nationen (alle im rhythmischen Staccato aufgezählt) oder die Olympischen Werte hymnisch besingt.

Szene aus: "Echo 72" von Michael Wertmüller.

Szene aus: "Echo 72" von Michael Wertmüller

Alles wenig opernhaft, weswegen wahrscheinlich die Regisseurin Lydia Steier eine weitere Ebene hinzusetzt. Sie verlegt das Geschehen in den Münchner Nazibau "Haus der Kunst", wo eine prollige Touristengruppe eine Ausstellung besucht, in der Sportler in Vitrinen zu sehen sind. Diese Ausstellung wandelt sich unmerklich zu einem Parallelereignis der echten Spiele. In der Mitte des Stücks werden die Sportler in den Vitrinen erschossen und von Tatortreinigern entsorgt, und ganz am Schluss werden die Protagonisten des eigentlichen Stücks, die ja auch Sportler sind, alle in eine Vitrine gedrängt und kommen (durch Gas?) um. Der Nazibau "Haus der Kunst" als Vernichtungslager?

Das alles ist ziemlich verworren und die Musik von Michael Wertmüller auch, obwohl sie sich zunächst klar strukturiert gibt, nämlich als allmähliche Beschleunigung vom Grundtempo 60 auf 300. Beim Hören hat man z. B. bei den ausufernden Anfangschören ("Der Himmel so blau und weiß, so klar wie Wasser") einen schleppenden Eindruck, erst später erlebt man eine Art deklamatorisches, opernhaftes Normalmaß. Wertmüller, ein ehemaliger Schlagzeuger, legt der komplexen Partitur fast durchgängig eine Art gezupften oder geschlagenen Puls zugrunde. Die Orchestermusik, von dem Avantgarde-Spezialisten Titus Engel geleitet, ist weitgehend auch durch rhythmische Konturen geschärft, nicht durch Klangfarben oder motivische Arbeit. Und dabei kommt als prägendes Element die Combo Steamboat Switzerland ins Spiel mit E-Bass, Schlagzeug und Hammondorgel. Das Meiste, was musikalisch prägnant ist, etwa die Punkklänge beim Tod der Sportler in den Vitrinen, die virtuosen Girlanden der Hammondorgel oder die wilden Interjektionen des E-Bass, kommt von dieser Band.

"Echo 72" besteht also aus einem merkwürdig komplizierten, aber nicht uninteressanten Libretto, einer polystilistischen, zupackenden, aber auch sehr konstruierten Musik und einer auf der Bühne hinzugesetzten zeitgeschichtlichen Verknüpfungsidee vom Hitlerdeutschland zur Münchner Olympiade. Das alles macht diese Olympia-Oper zu einem komplexen Theatererzeugnis, das am Ende sogar überraschend gut funktioniert.

Uraufführung: 25.01.2025 noch bis zum 27.02.2025

Besetzung:
Ein Trainer: Daniel Eggert
Eine Leichtathletin: Ketevan Chuntishvili
Eine schwangere Frau: Ruzana Grigorian
Ein Gewichtheber, ihr Mann: Philipp Kapeller
Eine Fechterin: Beatriz Miranda
Eine andere Fechterin: Freya Müller
Ein Ringer: Darwin Prakash
Ein anderer Ringer: Luvuyo Mbundu
Ein Sportschütze: Yannick Spanier
Ein Polizist: Ziad Nehme
Kampfrichterinnen: Chor der Staatsoper Hannover
Die Klage (live): Idunnu Münch
Die Klage (Video): Corinna Harfouch

Chor der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover,
Steamboat Switzerland

Musikalische Leitung: Titus Engel
Inszenierung: Lydia Steier
Bühne: Flurin Borg Madsen
Kostüme: Andy Besuch
Licht: Elana Siberski
Video: Elisa Gomez Alvarez / Rebecca Riedel
Soundcollage Marko Junghanß

Chor: Lorenzo Da Rio
Dramaturgie: Sophia Gustorff / Daniel Menne / Martin Mutschler
Xchange: Siiri Niittymaa