In der mittelalterlichen Buchhaltung der Stadt Hildesheim steht eine kurze Notiz zum Weinausschank am 20. September 1407: "Am Abend vor dem Tag des Evangelisten Matthäus - den Tatern in der Ratsschreiberei ausgeschenkt: 1/2 Stübchen." Das sind knapp zwei Liter Wein, dessen Ausschank damals dem städtischen Weinamt obliegt. "Tatern" ist eine der zahlreichen Fremdbezeichnungen für Roma-Gruppen.
Während in Niederdeutschland und Skandinavien von den "Tatern" - den Tataren - die Rede ist, setzt sich im hochdeutschen Raum der Begriff "Zigeuner" durch. In England werden die Roma-Völker "Gypsys" genannt, "die Leute aus Ägypten". In Frankreich heißen sie "Les Bohémiens", "die Leute aus den böhmischen Wäldern", und in den Niederlanden "Heidene", "die Heiden".
"Geschichte einseitig gefärbt"
Diesen von Klischees und Vorurteilen überlagerten Fremdbezeichnungen stehen die Selbstbezeichnungen Sinti und Roma gegenüber. In Deutschland bilden Sinti seit jeher die größte Gruppe. 1970 haben sich die Rom-Völker auf einem Kongress auf den Oberbegriff Roma geeinigt. Vermutlich stammen die unterschiedlichen Gruppen ursprünglich aus Indien: Sie wandern über Persien ins Byzantinische Reich und fliehen von dort vor den osmanischen Herrschern nach Europa.
Ihre ausnahmslos mündliche Tradition unterscheidet die Roma von allen Völkern mit Schriftkultur. "Mit der Folge, dass deren Schriftzeugnisse die Geschichte einseitig färben", sagt die Historikerin Karola Fings von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg. "De facto aber wissen wir bis heute wenig über die Roma."
Diskriminierend und romantisierend
Die Roma, die im Mittelalter nach Europa kommen, werden von den Chronisten als abenteuerlich, fremd und anders als die Christenheit beschrieben. Die Ansiedlung und die freie Berufswahl werden ihnen oft verweigert. So bleiben die Roma für lange Zeit fahrende Händler, Handwerker und Schausteller.
Gleichzeitig entstehen diskriminierende Zuschreibungen wie "ziehende Gauner", "Gesindel und Spitzbuben" sowie "Kindesräuber und Diebe". Solche "Zigeuner"-Bilder werden unter anderem in der Literatur, der Fotografie, in Filmen und Opern wiedergegeben. Dazu gehören auch romantisierende Bilder, wie "Wahrsager", feurige, schöne "Zigeunerin" und freies "Zigeunerleben".
NS-Völkermord erst 1982 eingestanden
Der Effekt ist über Jahrhunderte immer der gleiche: Der Minderheit werden angeborene Eigenschaften angedichtet. Das bietet den Nationalsozialisten eine Steilvorlage: Sie deuten die Fantasie-Bilder der Mehrheitsgesellschaft zum unveränderbaren Erbgut um. Im "Dritten Reich" werden Sinti und Roma als "rassisch Fremde" stigmatisiert, zwangssterilisiert und in Vernichtungslager deportiert. Geschätzte 220.000 bis 500.000 Sinti und Roma werden systematisch ermordet.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg halten sich die Vorurteile in Behörden und Gerichten. Noch 1956 schreibt der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil über Sinti und Roma: "Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität. Es fehlen ihnen die sittlichen Antriebe, weil ihnen die primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist." Das Urteil wird erst 2016 aufgehoben.
Auch der NS-Völkermord an den Roma und Sinti wird lange nicht eingestanden. Das geschieht erst 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt - nach einem Hungerstreik von zwölf Sinti im ehemaligen Konzentrationslager Dachau.
Autor des Hörfunkbeitrags: Marfa Heimbach
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 20. September 2022 an die erste urkundliche Erwähnung von Rom-Völkern in Deutschland. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 21.09.2022: Vor 85 Jahren: "Der Hobbit" von J. R. R. Tolkien wird veröffentlicht