Anfang 2010 schenken die Deutschen dem Eurovision Song Contest (ESC) wenig Beachtung: Der einzige deutsche Sieg von Nicole ist 28 Jahre her und die deutschen Teilnehmer verfehlen seit Jahren schlichtweg Europas Geschmack. Damit der ESC in Deutschland nicht ganz untergeht, muss ein neues Konzept her. Schließlich suchen öffentlich-rechliche und private Medien gemeinsam nach einem geeigneten Interpreten, der Deutschland beim nächsten Wettbewerb in Oslo repräsentieren soll. Stefan Raab führt als Jury-Präsident durch die acht Casting-Shows "Unser Star für Oslo". Doch wer kann diese Aufgabe "von nationaler Tragweite" erfüllen?
Lena Meyer-Landrut, Schülerin aus Hannover, lässt in einer der ersten Sendungen bereits hoffen. Ihre Stimme ist alles andere als brillant, doch mit ihrem eigenwilligen britischen Akzent und ihren unorthodoxen Tanzschritte begeistert sie. "Was du hast, und ich möchte, dass du das gleich wieder vergisst: Du hast Star-Appeal! Menschen werden dich lieben." Marius Müller-Westhagen behält mit seinem Jury-Urteil recht: Lena Meyer-Landrut wirkt jung, natürlich, kess und gewinnt das Ticket zum ESC nach Oslo. "Alter Finne", ruft die mitten im Abitur stehende Schülerin freudig ins Mikrofon.
Deutschland im Lena-Fieber
Der Siegertitel der Vorauswahl "Satellite" über - wie könnte es anders sein - die Liebe mit dem einprägenden "Love, oh, Love" schießt an die Chartspitze. Europas größter Musikwettbewerb ist wieder Gesprächsthema in Deutschland - und Lena plötzlich der Liebling der Nation. "Lena erweckte eine Zeitlang diesen Anschein von Authentizität. Also, die Leute dachten: Die ist wirklich so, wenn die sagt 'Voll krass' und 'I go nach Oslo'", erinnert sich Ingo Grabowsky, Kulturhistoriker mit Forschungsschwerpunkt Schlager. Bald schon weiß jeder, dass Lena weder ein Instrument spielen noch Noten lesen kann, aber seit vielen Jahren Tanzunterricht nimmt. Zwischen Vorentscheid und Abflug nach Oslo feiert Lena noch ihren 19. Geburtstag, nimmt rasch einen CD auf und beendet ihre Abiturprüfung. Sie ist das nette, aber etwas schräge Mädchen von nebenan.
Aber kann Lena auch Europa begeistern? In Oslo ist ESC-Fanclub-Präsident Michael Sonneck dabei und zunächst skeptisch. Die ersten Auftritte gehen daneben. "Aber in der dritten Probe am Samstagmittag, da hat sie uns wirklich alle weggehauen", erinnert sich Sonneck. Und das tut sie auch beim Finale am 29. Mai 2010. Als die 39 teilnehmenden Länder ihre Wertungen abgeben und Punkte verteilen, wird bald klar: Lena muss die Siegerin des ESCs sein. Und tatsächlich: Mit 246 Punkten holt sie nicht nur den Titel, sondern auch absolute Rekordzahlen ein. Der Zweitplatzierte, die Türkei, hat ganze 76 Punkte weniger. Lena kann es nicht fassen - und Deutschland auch nicht.
Riesenempfang in Deutschland
In Hannover empfangen am nächsten Tag zwanzigtausend Fans sowie der stolze Landesvater Christian Wulff Lena. Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt Grüße ausrichten. "Ich bin überwältigt, ich kann es selbst kaum realisieren. Das ist fast so geil wie Weltmeister werden! Eigentlich fast noch geiler!", ruft Lena ihren Fans zu. Deutschland ist Lena. War der Sieg von Nicole 1982 den großen Zeitungen nur eine kurze Notiz wert, wird Lena auf der ersten Seite gefeiert. "Sogar die Frankfurter Allgemeine bejubelte das "Fräuleinwunder" - auf der Titelseite. Und das wäre zu Nicoles Zeiten undenkbar gewesen", sagt Grabowsky.
"Satellite" steht wochenlang auf Platz eins der europäischen Charts. Sogar als Stefan Raab ankündigt, dass Lena Meyer-Landrut beim kommenden ESC ihren Titel wieder verteidigen wird, regt sich kaum Widerstand. Beim Vorentscheid zum ESC in Düsseldorf 2011 wählt Deutschland jetzt ein Lied für Lena. Doch die bedingungslose Begeisterung für die ESC-Siegerin ist verpufft, die kritischen Stimmen werden lauter. In einem Interview mit Frank Elstner reagiert sie harsch und sichtlich angenervt. Nun gilt sie als überheblich und zickig. "Man fühlt sich wie eine Erdbeere im Mixer, so ein bisschen. Und ich bin die Erdbeere und ich muss versuchen heile zu bleiben", entschuldigt Lena später ihren Ausbruch mit dem großen medialen Interesse.
Am 14. Mai 2011 nimmt Lena von Startplatz 16 aus die Mission Titelverteidigung in Angriff. Europas Jurys und Televoter wählen sie mit 107 Punkten aber nur auf Rang zehn und der Ire Johnny Logan bleibt auch nach dem 56. Eurovision Song Contest der einzige Teilnehmer, der den Wettbewerb zweimal gewonnen hat.
Stand: 29.05.2015
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