Es soll ein großer Tag werden: Am 6. Januar 1977 machen sich Schriftsteller Václav Havel und zwei seiner Mitstreiter auf zum tschechoslowakischen Parlament. Im Gepäck haben sie ein brisantes Dokument, die "Charta 77". Dabei handelt es sich um eine Erklärung von 242 Intellektuellen, Künstlern und einstigen Reformpolitikern. Sie fordern darin die kommunistischen Machthaber auf, die Menschenrechte zu achten - wie es das Regime durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 zugesagt hat.
Doch der Auftritt der Oppositionellen im Prager Parlament fällt aus: Das Trio wird auf der Fahrt von der Polizei verfolgt und inhaftiert, das Papier beschlagnahmt. Trotzdem greifen die Behörden zu spät ein: Die "Charta 77" ist bereits westlichen Medien zugespielt worden und erscheint am selben Tag in der französischen Tageszeitung "Le Monde". Am nächsten Tag wird die offizielle Fassung der deutschen Übersetzung des Aufrufs in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlicht.
Als Konterrevolutionäre kritisiert
In der CSSR wird der Text nicht veröffentlicht. Die Staatsführung reagiert mit einer Gegenkampagne. Die Bürgerrechtler werden als "Agenten des Imperialismus ohne ein Körnchen Ehre und Gewissen" bezeichnet, denen es um "die Vorbereitung einer neuen Konterrevolution" gehe. Damit wird auf die Reformbewegung des "Prager Frühlings" von 1968 angespielt, die durch Truppen des Warschauer-Pakts niedergeschlagen worden ist.
Zugleich distanzieren sich viele etablierte Intellektuelle und Künstler von der Charta - etwa der Sänger Karel Gott, der "die noch schönere Melodie" des Sozialismus propagiert. Der Staat reagiert aber auch mit direkten Repressionen. Die Unterzeichner der Charta werden verhaftet, verhört, dürfen ihre Berufe nicht mehr ausüben oder werden in den Westen abgeschoben.
"Konstruktiver Dialog" als Ziel
Die Bürgerrechtler bleiben trotzdem weiterhin aktiv. Nach eigener Definition bilden sie eine "freie informelle und offene Gemeinschaft" und "keine Organisation". Die symbolische Bezeichnung "Charta 77" verweise darauf, dass sie "an der Schwelle eines Jahres" entstanden sei, "das zum Jahr der Rechte politisch Gefangener erklärt wurde". Eigene politische oder gesellschaftliche Reformprogramme wolle sie nicht aufstellen, sondern im "konstruktiven Dialog" mit den Machthabern "auf verschiedene konkrete Fälle von Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten" aufmerksam machen.
Bis zur "Samtenen Revolution" 1989 bringt die Charta, deren Sprecher wegen Verhaftungen immer wieder wechseln, 572 Dokumente zu verschiedenen Themen heraus. Neben Menschenrechten geht es auch um Minderheiten, Umwelt, Kultur und Geschichte. Gesellschaftlich ist die Bewegung in der Tschechoslowakei jedoch weitgehend isoliert: Nur 1.883 Menschen treten ihr bis 1989 bei. Im November 1992 löst sich die "Charta 77" auf, ihre historische Aufgabe sei erfüllt. Mitbegründer Václav Havel wird nach der "Samtenen Revolution" sogar Staatspräsident. Das Amt behält er bis 2003.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 6. Januar 2017 ebenfalls an die "Charta 77". Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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