Zugesprochen wird ihm die Ehrung bereits für das Jahr 1955. Doch Winston Churchill ist am Himmelfahrtstag, an dem der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen jeweils verliehen wird, nicht reisefähig. Der ehemalige britische Kriegspremier leidet an Herzproblemen. Erst im folgenden Jahr kann er nach Aachen reisen und am 10. Mai 1956 - als einfacher britischer Abgeordneter - die Auszeichnung in Empfang nehmen. Es ist Churchills erster Besuch in Deutschland nach der Potsdamer Konferenz im Juli 1945, auf der er mit US-Präsident Harry S. Truman und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Josef Stalin über die Neuordnung Europas beraten hat.
Feuerwehrmänner tragen den Sessel mit dem sichtlich geschwächten 82-Jährigen die Stufen zum Reichssaal des Aachener Rathauses hinauf. Churchills Begrüßung der Anwesenden auf deutsch ist eine Geste des Respekts. Mit dieser Preisverleihung ehren die Besiegten einen der Sieger des Zweiten Weltkrieges. Dagegen gibt es aber auch Widerstand: Zeitgleich mit der Feier protestieren rund 750 deutsche Vertriebene am Gefallenen-Ehrenmal in Aachen. Sie werfen Churchill vor, der Abtretung ehemals deutscher Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie zugestimmt zu haben.
Den Kalten Krieg entschärfen
Dabei ist Churchill als politischer Freund und als Befürworter eines vereinten Europas nach Aachen gekommen. Diesen Ruf hat er bereits 1946 mit seiner viel beachteten Rede in Zürich begründet: "Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muss ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein." Aber Churchill will nicht nur die beiden Weltkriegsgegner Deutschland und Frankreich versöhnen. Die von ihm angestrebte europäische Vereinigung soll auch den Kalten Krieg entschärfen. Churchill, der den Begriff Eiserner Vorhang geprägt hat, strebt einen Ausgleich mit der Sowjetunion an. Dafür wirbt er auch in seiner Aachener Rede und verweist auf die sich andeutende Entstalinisierung der Sowjetunion: "Wenn sie aufrichtig gemeint ist, haben wir es mit einem neuen Russland zu tun." Dann solle sich "das neue Russland" auch der Nato anschließen können.
Adenauer ist konsterniert
"Churchill sprach davon, dass die Integration Europas nicht am Eisernen Vorhang haltmachen könne, sondern auch die osteuropäischen Staaten und selbst die Sowjetunion mit einbeziehen müsse", sagt Geschichtsprofessor und Churchill-Biograph Peter Alter. "Das war eine Sensation in Aachen." Und ein Schock für Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU). Denn seine Außenpolitik setzt ausschließlich auf Westintegration. Von einer Öffnung gegenüber der Sowjetunion will der Kanzler nichts wissen. "Adenauer, der die Laudatio gehalten hatte, war völlig konsterniert, als er das von Churchill hörte", so Historiker Alter. Er habe Anweisung gegeben, über dieses Thema während des anstehenden Besuchs von Churchill in Bonn nicht mehr zu reden.
Nach dem Festakt im Aachener Rathaus tritt Churchill auf die Freitreppe. Als er seinen Zylinder zieht, applaudiert ihm die wartende rund 6.000-köpfige Menschenmenge.
Stand: 10.05.2011
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