Im Oktober 1707 erleidet Englands Royal Navy einen herben Verlust - ohne Feindberührung und in bestens bekannten Gewässern. Vor der Einfahrt zum Ärmelkanal rammen vier Kriegsschiffe einen Unterwasserfelsen und sinken in Minuten, 2.000 Seeleute kommen ums Leben. Die Ursache der Katastrophe: Die Navigatoren hatten die Entfernung zur Küste mit den zur Verfügung stehenden Geräten und Kenntnissen falsch berechnet. Ein Fehler, der seit Beginn der Seefahrt bereits unzählige Schiffe ins Verderben gerissen hat.
Die exakte Bestimmung geografischer Breiten anhand der Gestirne ist Seefahrern seit Jahrhunderten möglich. Dagegen erweist sich die Messung der Länge, also der Distanz in horizontaler Richtung, als ungleich schwieriger. Zwar ist bekannt, dass sich die Erde in 24 Stunden um 360 Grad dreht, in einer Stunde also um 15 Grad. Doch dieses Wissen nutzt wenig, solange Uhren auf hoher See nicht gegen Wellengang und Temperaturunterschiede gefeit sind. Erst der Tischler John Harrison, eine Landratte und als Uhrmacher ein Autodidakt, wird das Problem der Längengrad-Bestimmung lösen.
Wettlauf Uhr gegen Astronomie
Im Königlichen Observatorium in Greenwich bemühen sich Wissenschaftler bereits seit 1675 vergeblich um eine rein astronomische Lösung des Längengrad-Problems. Nach der Katastrophe vor dem Ärmelkanal sieht sich das Parlament in London zum Handeln gezwungen, um Englands Vorherrschaft auf den Weltmeeren zu sichern. Mit dem "Longitude Act" lobt es 1714 ein enormes Preisgeld von bis zu 20.000 Pfund (ein Arbeiter verdient rund zehn Pfund im Jahr) für eine praktikable und zuverlässige Bestimmung des Längengrads aus. Zur gleichen Zeit baut der 1693 geborene John Harrison in Yorkshire gerade seine erste Pendeluhr mit einem Holzräderwerk.
Durch eigene Erfindungen kann Harrison die Genauigkeit seiner Uhren erheblich verbessern. So konstruiert er ein Pendel aus zwei verschiedenen Metallen, das seine Länge auch bei Temperaturunterschieden nicht verändert und deshalb gleichmäßig schwingt. Seine so genannte "Grashopper"-Hemmung sorgt für einen reibungsfreien Lauf. Während übliche Uhren rund eine Minute pro Tag falsch gehen, weichen Harrisons Chronometer nur noch eine Sekunde pro Monat von der exakten Zeit ab. 1727 schließlich fühlt sich John Harrison in der Lage, zum Wettlauf um eine nutzbare Schiffsuhr gegen die Astronomie-Koryphäen von Greenwich anzutreten und sich das hohe Preisgeld zu sichern.
"H4" als "nie versagender Führer"
Nach acht Jahren Bauzeit stellt Harrison dem zuständigen "Board of Longitude" seine "H1" vor, ein Uhrenmonster, das eher einer Zeitmaschine gleicht. Auf einer Fahrt nach Lissabon 1735 kann er zwar schwere Navigationsfehler verhindern, doch zur für das Preisgeld vorgeschriebenen Testreise über den Atlantik will er noch nicht antreten. Jahrelang werkelt Harrison wie ein Besessener an der Verkleinerung seiner Uhr. 1759 endlich präsentiert er die "H4"; mit nur noch 13 Zentimetern im Durchmesser und 1,45 Kilogramm Gewicht ein Zwerg gegenüber den Vorgängern. In Vertretung seines bereits 68-jährigen Vaters startet nun William Harrison im Dezember 1761 mit der "H4" zur alles entscheidenden Erprobungsfahrt nach Jamaika.
Weder Klima noch Wellen können den Gang der Uhr beeinträchtigen. Mehrfach bewahren Harrisons Positionsberechnungen Schiff und Besatzung dank der präzisen Zeit der "H4" vor dem sicheren Verderben. Als das Schiff am 26. März 1762 wieder in Portsmouth festmacht, weicht die "H4" nur fünf Sekunden von der Londoner Zeit ab. Trotzdem dauert es noch Jahre, bis sich ihr genialer Konstrukteur gegen die blamierten Astronomen durchsetzen kann. Erst als James Cook die Schiffsuhr auf seiner zweiten Südseereise testet und als "nie versagenden Führer" preist, gilt das Längengrad-Problem offiziell als gelöst. 1773, drei Jahre vor seinem Tod, wird John Harrison auf Anweisung König Georgs III. das vollständige Preisgeld ausgezahlt.
Stand: 26.03.2012
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