Die Männer kommen bei Nacht. Unter ihren Umhängen verbergen sie scharf geschliffene Messer. Was dann im Schlafzimmer des Philosophen Abaelard passiert, hat er selbst beschrieben: "Sie beraubten mich der Körperteile, mit denen ich begangen hatte, worüber sie klagten." Der Philosoph hatte seine Schülerin Héloïse verführt und geschwängert, ihr Onkel Rache genommen. Bereits früh am Morgen strömen die Menschen vor dem Haus zusammen, immerhin hatten des Onkels Schergen einen umschwärmten Gelehrten von Paris entmannt.
Der enthaltsam lebende Philosoph wünscht sich eine Geliebte
Eine der größten Liebesgeschichten des Mittelalters beginnt 1117. Abaelard hat den Logik-Lehrstuhl an der Kathedralschule von Notre Dame inne. Studenten aus ganz Europa strömen zu ihm, dem gut aussehenden, hochbegabten, streitbaren Philosophen, der gerade einmal 38 Jahre alt ist. Neben Anselm von Canterbury gilt der Frühscholastiker Abaelard als zweiter großer Philosoph des 12. Jahrhunderts. Lebte er bisher streng enthaltsam, wünscht er sich nun eine Geliebte. In Nachbarschaft entdeckt er Héloïse, die Nichte des Domkanonikers Fulbert. Abaelard bietet an, dem klugen Mädchen Unterricht zu geben. Der Onkel ist begeistert und der Verführer verblüfft: "Er überließ sie offensichtlich ganz und gar meiner Erziehung und bat mich obendrein dringend, ich möchte doch ja alle freie Zeit, sei's bei Tag oder bei Nacht, auf ihren Unterricht verwenden."
Große Liebe im Mittelalter
Die kaum 20-jährige Héloïse ist überwältigt, den berühmten Philosophen als Hauslehrer zu bekommen und verliebt sich Hals über Kopf. Abaelard erinnert sich: "Da wurden über dem offenen Buch mehr Worte über Liebe als über Lektüre gewechselt; da gab es mehr Küsse als Sprüche. Nur zu oft zog es die Hand statt zu den Büchern zu ihrem Busen, und öfter spiegelte Liebe die Augen ineinander, als dass die Lektüre sie auf die Schrift lenkte." Héloïse gibt sich ihm ohne Bedenken hin. Auch Abaelard hat sich verliebt: "Keine Stufe der Liebe ließen wir Leidenschaftlichen aus, und wo die Liebe etwas Ungeheuerliches erfinden konnte, wurde sie mitgenommen. Und je weniger wir bisher diese Freuden erfahren hatten, umso glühender verharrten wir in ihnen und umso weniger verwandelten sie sich in Überdruss." Schließlich entführt Abaelard die schwangere Héloïse ins Haus seiner Schwester in der Bretagne, wo der Sohn Astralabius zur Welt kommt.
Abaelard und Héloïse sind im Grab vereint
Abaelard und Héloïse heiraten zwar, treten aber nach der Kastration in zwei verschiedene Klöster ein. Noch 15 Jahre später, sie selbst ist nun eine angesehene Äbtissin, schreibt sie ihm Briefe. "Jene Wonnen der Liebenden, die wir miteinander genossen, waren mir so süß, dass sie mir weder missfallen noch eben aus dem Gedächtnis schwinden können. Mitten im feierlichen Hochamt haben mein armes Herz so ganz jene wollüstigen Phantasiegebilde eingenommen, dass ich nur für ihre Lüsternheiten offen bin, nicht für das Gebet." Héloïses Briefe sind so ungeheuerlich für eine Frau des Mittelalters, dass immer wieder an ihrer Echtheit gezweifelt wird. Als der Philosoph am 21. April 1142 mit 63 Jahren stirbt, lässt Héloïse seinen Leichnam holen. Nach ihrem Tod, 22 Jahre später, werden beide in einer Gruft beigesetzt. Damit ist Abaelards Wunsch erfüllt: "Du hast uns vereint, o Herr, und wiederum getrennt, wie es dir gefallen und wann es dir gefallen. Nun, Herr, vollende in deiner großen Barmherzigkeit, was du so barmherzig begonnen; die du in der Welt für kurze Zeit auseinander gerissen, vereinige sie mit dir im Himmel für alle Ewigkeit." Heute liegen beide gemeinsam auf dem Friedhof Père-Lachaise in Paris und Verliebte pilgern zu ihrem Grabmal.
Stand: 21.04.2012
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