Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet sich in Deutschland eine neue Freizeitbeschäftigung: der moderne Sport. Aus England werden Sportarten wie Fußball importiert und machen dem traditionellen deutschen Turnen Konkurrenz. "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn hatte bereits 1811 in der Berliner Hasenheide den ersten Turnplatz eröffnet, doch nun wächst das Interesse am zunächst als "undeutsch" kritisierten Sport von den britischen Inseln. Zusammen mit der Sportbegeisterung entfaltet sich auch die Karriere von Carl Diem, der sowohl in der Kaiserzeit, während des Nazi-Regimes und in der Bundesrepublik hohe Ämter als Sportfunktionär innehat.
Geboren wird Carl Diem am 24. Juni 1882 in Würzburg. Seine Jugend in Berlin wird durch seinen Vater geprägt. Der Geschäftsmann geht mit verschiedenen Firmen immer wieder bankrott. Schließlich verlässt er die Familie, wandert in die USA aus und begeht dort nach weiteren Misserfolgen 1914 Suizid. Danach bricht Carl das Gymnasium ab und macht eine kaufmännische Lehre. Bestätigung findet er jedoch eher im Sport. Zunächst ist er als Leichtathlet erfolgreich. Doch sein Organisationstalent ist größer. Er will dem Bildungsbürgertum vermitteln, dass Sport nicht nur eine körperliche Betätigung ist, sondern auch eine kulturelle Dimension hat: "Ich wollte eben nachweisen, dass Goethe zunächst einmal selbst in viel größerem Maße als bekannt sich sportlich bestätigt hat."
Freiwillig an die Front
1912 entdeckt Diem in Schweden einen sportlichen Leistungstest, den er massentauglich macht: Er führt das Deutsche Sportabzeichen ein. Im Jahr darauf wird er Generalsekretär des "Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen" und setzt sich als nationalkonservativ geltender Funktionär für einen Aufbau des nationalen Sportwesens ein. Gleichzeitig arbeitet Diem daran, "Deutschland in der olympischen Bewegung in Stellung zu bringen", wie Geschichtsprofessor Frank Becker von der Universität Duisburg-Essen sagt. "Es ist ihm mit anderen zusammen gelungen, die Spiele, die für 1916 geplant waren, nach Deutschland zu holen." Wegen des Ersten Weltkrieges fallen die Spiele aber aus. Diem zieht freiwillig an die Front.
1920 gehört Diem zu den Mitbegründern der "Deutschen Hochschule für Leibesübungen". Mediziner wie August Bier und Ferdinand Sauerbruch leiten die Institution. Das verhilft den Sportwissenschaften zu Ansehen. Darüber freut sich Diem - nicht aber über die politischen Verhältnisse. Er hält nicht viel von Demokratie, sondern wünscht sich eine autoritäre Regierung aus bürgerlichen Politikern. In den späten Jahren der Weimarer Republik sagt er umstrittene Sätze wie etwa denjenigen - so Historiker Becker - "dass von vielen schlechten Staatsformen die Diktatur die beste sei." Insofern hat Diem 1933 auch kein Problem mit der sogenannten Machtergreifung der Nazis. Im Auftrag von Adolf Hitler organisiert er die Olympischen Spiele von Berlin von 1936.
"Mit dem NS-Regime über Gebühr eingelassen"
Diem unterstützt das NS-Regime weiter - auch außerhalb des Sports. In heroischen Texten glorifiziert er zum Beispiel den deutschen Überfall auf Frankreich: "Wir haben mit steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf verfolgt!" Im März 1945 hält er eine Durchhalte-Rede vor Hitlerjungen, die noch in die Schlacht um Berlin ziehen sollen. Einer von ihnen ist der 17-jährige Reinhard Appel, später Chefredakteur des ZDF: "Das Ganze endete in einem flammenden Appell an uns, für Führer, Volk und Vaterland zu sterben." Diem, so Historiker Becker, sei ab 1943 über den Holocaust informiert gewesen: "Trotzdem hat er seine Einstellung gegenüber dem NS-Regime nicht verändert." Nach 1945 stellt sich Diem jedoch als Opfer dar. Er weist daraufhin, dass er 1933 seinen Posten als Leiter der Deutschen Hochschule für Leibesübungen verloren habe.
Diems Verhalten in der Nazi-Zeit hat zunächst keine Konsequenzen: Er gründet 1947 in Köln die Deutsche Sporthochschule und leitet sie als Rektor bis zu seinem Tod am 17. Dezember 1962. Erst ab Mitte der 1980er Jahre wird genauer hingeschaut: Viele Carl-Diem-Straßen werden umbenannt. Die Sporthochschule Köln beauftragt 2008 Historiker Becker, eine Biografie über Diem zu schreiben - mit der Zusage an ihn frei und unabhängig arbeiten zu können. "Leider gab es hinterher bei der Formulierung der Endergebnisse einige Schwierigkeiten", so der Professor. "Die Sporthochschule Köln, die ja seit jeher Diem verteidigt, war nicht bereit, meine kritischen Befunde zu Diem so ohne Weiteres zu akzeptieren." Doch Beckers Hauptquelle ist Diems Nachlass von insgesamt rund 6.000 Briefen, 12.000 Tagebuchseiten, 2.000 wissenschaftlichen Aufsätzen und 50 Büchern. Beckers Fazit lautet: "Carl Diem war wichtig für den deutschen Sport - keine Frage -, aber er hat sich mit dem NS-Regime über Gebühr eingelassen, das ist nicht akzeptabel."
Stand: 17.12.2012
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