Nagelbomben-Opfer bei NSU-Prozess
"Das Leiden der Opfer wird sichtbar"
Stand: 20.01.2015, 17:15 Uhr
Auf diesen Tag haben viele lange gewartet: Erstmals kamen am Dienstag (20.01.2015) im NSU-Prozess Opfer des Kölner Nagelbombenanschlags von 2004 zu Wort. Auch deren Ärzte wurden befragt. Die WDR-Redakteurin Ayca Tolun war im Gerichtssaal dabei. Sie schildert ihre Eindrücke.
WDR.de: Wie hat der Tag heute im Gerichtssaal begonnen?
Ayca Tolun: Dicht gedrängt – die Zuschauer- und Pressetribüne war voll wie schon lange nicht mehr. Auch unten im Gerichtssaal war es sehr voll, weil neben den Opfern viele Nebenklägeranwälte anwesend waren. Auch die Zeugenvernehmungen waren eng getaktet. Sieben Zeugen wurden insgesamt gehört, vier Opfer und drei der sie behandelnden Ärzte.
WDR.de: Was berichten die Opfer?
Tolun: Alle leiden noch deutlich unter den Folgen des Anschlags. Besonders eindrücklich waren die Berichte der ersten beiden geladenen Zeugen. Das waren zwei befreundete Männer, Sandro D. und Melih K., die am 9. Juni 2004 nur zufällig in der Keupstraße waren: Sie haben ihr Auto geparkt und wollen noch einen Döner essen. Auf dem Rückweg gehen sie an jenem Friseurladen vorbei, vor dem das Fahrrad mit der Nagelbombe abgestellt ist. Die beiden jungen Männer sind in unmittelbarer Nähe, als die Explosion erfolgt und werden zu Boden geschleudert. Ihre nächste Erinnerung ist das Aufwachen im Krankenhaus, wo beide schwer verletzt eingeliefert worden sind.
Ihre übernächste Erinnerung ist der Umstand, dass sie nicht erfahren durften, ob der andere noch lebt. Denn beide wurden von der Polizei verdächtigt. Vielleicht hätten ja die beiden das Fahrrad dort abgestellt - und die Bombe sei nur zu früh explodiert.
WDR.de: Welchen Eindruck haben die beiden bei ihren Zeugenaussagen gemacht?
Tolun: Beide waren sehr zurückgenommen. Man nahm ihnen sofort ab, dass sie all die Jahre seit der Tat mit dem hadern, was passiert ist. Sie haben beide von schweren psychischen Störungen erzählt. Sie waren teilweise über längere Zeit arbeitsunfähig, einer von ihnen hat seine Ausbildung abbrechen müssen. Depressionen, Schlafstörungen, Panikattacken, sich in Menschenmengen unwohl fühlen – all diese Symptome haben sie geschildert. Beide sind nach wie vor in Therapie. Man merkte, dass ihr Leben alleine durch die vielen Operationen, Reha-Maßnahmen und bleibenden Narben enorm beeinträchtigt ist, und sie noch nicht zu einem normalen Leben zurückgefunden haben.
WDR.de: Wie haben die Angeklagten auf die Schilderungen reagiert?
Tolun: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat sich seit langem erstmals wieder interessiert gezeigt an dem, was im Gerichtssaal passiert. Normalerweise hat sie ihren geöffneten Laptop vor sich, der war heute aber geschlossen. Sie hat immer wieder in Richtung Zeugentisch geguckt und sich die Männer auch intensiv angesehen.
Es wurden von den Ärzten relativ schwer zu ertragende Fotos von Wunden und Operationen gezeigt. Auch das hat sie sich immer wieder angesehen. Bei den anderen Angeklagten hingegen war keine Reaktion feststellbar. Sie gaben sich gelangweilt.
WDR.de: Wie waren die Reaktionen bei den Zuschauern?
Tolun: Es sind viele Kölner Gymnasiasten und Studenten dabei, die mit in den drei Bussen angereist sind, die von der Nachbarschaftsinitiative "Keupstraße ist überall" organisiert worden waren. Sie waren aufgeregt, Beate Zschäpe zu sehen. Und als einer der Zeugen an einer Stelle über seine Narben bemerkte, er habe nach dem Anschlag ausgesehen wie jemand aus der Ausstellung "Körperwelten", gab es amüsiertes Gelächter und Klatschen über den Vergleich. Daraufhin hat der Richter die jungen Leute in die Schranken gewiesen.
Zustimmung von der Tribüne gab es auch, als einer der befragten Männer sagte, er habe der Polizei bereits frühzeitig mitgeteilt, dass er Rechtsextreme als Täter vermute, weil durch die Art des Anschlages möglichst viele Menschen getroffen werden sollten. Das spreche doch gegen eine innertürkische oder türkisch-kurdische Fehde. Vor Gericht fügte er nun hinzu: "Da braucht man kein Ermittler sein."
WDR.de: Gibt es neue Erkenntnisse?
Tolun: Nein. Auch bei den noch anstehenden Terminen, bei denen weitere Opfer gehört werden, ist nicht zu vermuten, dass neue Fakten öffentlich werden. Neu ist allerdings, dass bei diesen Zeugenaussagen das Leiden der Opfer sichtbar und spürbar wird.
WDR.de: Die Kölner Initiative "Keupstraße ist überall" hat zu einem Aktionstag vor dem Gericht aufgerufen. Was passiert da?
Es gibt vor dem Gerichtsgebäude eine Bühne, auf der verschiedene Aktionen stattfinden. Bands treten auf, Akten werden symbolisch geschreddert, Aufrufe werden verlesen. Später ist ein Demonstrationszug durch die Innenstadt geplant, der als Straßenfest enden soll.
WDR.de: Sie beobachten den NSU-Prozess seit seinem Beginn. Wie ist Ihr Eindruck von diesem Tag?
Tolun: Durch solche Zeugenaussagen wie heute bekommt der NSU-Prozess seine Wahrhaftigkeit, Relevanz und Vehemenz. Denn üblicherweise plätschert der Prozess mehr oder weniger vor sich hin. Es passiert sehr viel juristisch Abstraktes. Bei solchen Zeugenaussagen wird hingegen erst verständlich, worüber wir seit 175 Verhandlungstagen in anderthalb Jahren eigentlich reden.
Das Interview führte Dominik Reinle.