Haben Sie sich schon vom Ergebnis der Bundestagswahl erholt? Mussten sie das überhaupt?
Warum ich das frage? Mich haben noch nie so viele Reaktionen nach dem Ergebnis einer deutschen Wahl erreicht wie in dieser Woche. Ganz ungefragt, per WhatsApp oder plötzlich im Gespräch, das sich eigentlich um etwas anderes drehte. Alle einte das Entsetzen über das 20,8-Prozent-Ergebnis der AfD.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatte eine extrem rechte Partei so viel Zustimmung, auch in NRW (16,8 Prozent). Das ist eine Botschaft vom Wochenende.
Beispielloser Tabubruch von Friedrich Merz
Dass der Sauerländer Friedrich Merz in einem beispiellosen Tabubruch mit der AfD im Bundestag eine Mehrheit herbeigeführt und einen Knallhart-Wahlkampf in Migrationsfragen geführt hat, bescherte der CDU ihr historisch zweitschlechtestes Ergebnis. Das Manöver hat auch nicht dazu geführt, dass bisherige AfD-Wähler wieder CDU gewählt haben, das zeigen Nachwahlbefragungen. Stattdessen verlor die CDU rund eine Million Stimmen an die AfD.
Das war zu erwarten: Die Politikwissenschaft zeigt seit Jahren, dass es Parteien aus der politischen Mitte eben nicht nutzt, wenn sie Positionen des rechten politischen Randes übernehmen. Im Gegenteil: Eher werden die extremen Parteien gestärkt. Weil ihre zuvor inakzeptablen Positionen teils bereitwillig angenommen werden, wenn sie von einer Partei der politischen Mitte formuliert werden.
Veränderung der politischen Kultur
Das Vorgehen von Friedrich Merz verändert die politische Kultur im Land. Denn er hielt nicht nur vor der Wahl an rechtspopulistischen Kulturkampf-Slogans ("grüne und linke Spinner") fest. Er tut es, ungewöhnlich in Deutschland, auch nach seinem Sieg. Seine absurde Kritik am aktuellen Wahlrecht gehört dazu.
Und obwohl er sich schon als sicherer Kanzler fühlen kann: Einige, die sich in den vergangenen Wochen erdreistet haben, gegen den gemeinsamen Bundestags-Beschluss seiner CDU mit der AfD zu demonstrieren, werden von Merz jetzt unter Druck gesetzt. Einen Tag nach der Wahl stellte er der scheidenden Bundesregierung 551 Fragen nach gemeinnützigen Organisationen, die die Demonstrationen unterstützt haben könnten. In dem Antrag raunt Merz von einer "Schattenstruktur, die mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreibt".
Ministerpräsident Wüst ist Spaltung fremd
Die Drohkulisse, die er aufbaut: Unliebsamen Gruppen von Correctiv über BUND bis "Omas gegen Rechts" könnte staatliche Förderung entzogen werden. Schweigen oder Geld weg. Dass Zivilgesellschaft eben nicht politisch neutral sein muss, um gemeinnützig zu sein, weiß Merz vermutlich sogar – wahrscheinlich ist ihm Stimmungsmache aber wichtiger. Ähnlich war in der Vergangenheit die AfD vorgegangen.
Merz' Kulturkampf ist für seinen Parteifreund Hendrik Wüst, der NRW regiert, ein Problem. Denn der koaliert nicht nur mit den Grünen, sondern ist auch selbst liberaler und versöhnender als Merz. Die Spaltung ist Ministerpräsident Wüst fremd. Zugleich wird er dem künftigen CDU-Kanzler nicht in die Parade fahren. Zu wie vielen dieser Tiraden kann Wüst schweigen, ohne den Koalitionsfrieden zu gefährden?
Neben diesen eher übergeordneten Fragen der politischen Kultur hat das Ergebnis der Bundestagswahl auch Auswirkungen auf das direkte Alltagsgeschäft der NRW-Landesregierung.
In Nordrhein-Westfalen tauschen die Koalitionäre von CDU und Grünen beim Blick nach Berlin die Rollen: Statt an der Regierung sind die Grünen in Zukunft im Bund nur noch an der Opposition beteiligt. Und die CDU wird den Regierungschef stellen.
Wird Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) weiter so laut wasserstofffähige Gaskraftwerke oder Geld für überschuldete Kommunen fordern, wenn er nicht mehr Robert Habeck (Grüne) oder Christian Lindner (FDP) für Verzögerungen verantwortlich machen kann?
Wird Wüsts Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) weitere Verschärfungen im Migrationsrecht im Bundesrat mittragen, wenn diese Maßnahmen in Zukunft ohne die Bundesgrünen in Berlin ausgehandelt werden?
Die Ergebnisse dieser Bundestagswahl, sie sind nicht nur wichtig für Deutschland im Allgemeinen, sondern auch für NRW im Speziellen, auf Jahre.
Dieser Text erscheint auch als Editorial in "18 Millionen - Der Newsletter für Politik in NRW". Jeden Freitag verschicken wir die Themen, die NRW bewegen – an politisch Interessierte, Aktive, Gewählte, und Politik-Nerds.
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