Bildungsnotstand: Warum immer mehr Lehrkräfte in NRW aussteigen
Stand: 06.03.2023, 16:56 Uhr
Der Lehrkräftemangel spitzt sich zu. 8.000 Stellen sind in NRW unbesetzt. Der Krankenstand ist hoch, der Nachwuchs kaum interessiert. Manche Lehrkräfte geben ganz auf - was die Lage weiter verschärft.
Von Martina Koch
"Die Situation war für alle sehr beängstigend", schildert eine Grundschullehrerin einen Konflikt mit einem Schüler, der außer Kontrolle geriet. "Ich habe ihn aus der Klasse rausgezogen. Er hat mich getreten, gebissen und dabei furchtbar geschrien. Irgendwann hat er sich losgerissen und ist auf unsere Schulleiterin losgegangen."
Die Pädagogin will anonym bleiben, um nicht als faule, jammernde Lehrerin beschimpft zu werden. Nach fast 30 Jahren fühlt sie sich überfordert und wird monatelang krankgeschrieben. Aber ans Aufgeben denkt sie noch nicht.
Lehrkräfte steigen aus dem Beruf aus
Für Kim Lange, eine andere Lehrerin aus Köln, war es immer der Traumberuf. Dank des Systems habe er sich in einen Albtraum verwandelt, erzählt sie. Kim Lange hatte Lehramt für Haupt-und Realschule mit den Fächern Mathematik und Politik studiert, wurde an einer Gesamtschule verbeamtet.
Zwischenzeitlich hatte sie 31 Kinder in der Klasse mit sehr unterschiedlichen Problemen und Bedürfnissen. "Neben sechs Mathekursen waren Aufgaben wie Unterrichtsvorbereitung, Korrekturen, Elterngespräche, Förderung, Schulentwicklung etc. zeitlich nicht mehr zu schaffen", so Kim Lange. Der Druck, immer das Beste für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen, habe dann zu einem handfesten Burnout geführt. Mitten in der Pandemie hat sie gekündigt.
Jüngere werden abgeschreckt
Kim Lange ist kein Einzelfall. Beim WDR haben sich einige ehemalige Lehrkräfte gemeldet, die mit Anfang 30 aus dem Beruf heraus gegangen sind und auf die lebenslange Absicherung als Beamte verzichten. Das beobachtet auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) mit Sorge. Der Nachwuchs wolle nicht mehr unbedingt ein Leben lang Lehrkraft sein, so die stellvertretende Landesvorsitzende Wibke Poth. Und die von der Politik versprochene Wertschätzung und Entlastung der Lehrkräfte komme ja seit Jahren nicht. "Das schreckt ab", sagt Poth.
Coaching-Agenturen helfen Lehrkräften
Vielen fehlt allerdings der Mut, den Beruf zu wechseln. Bei Kim Lange war es ein langer Prozess. Sie hatte sich deshalb professionelle Hilfe geholt bei der Business Mentorin Isabell Probst. Die hat nach eigenen Angaben inzwischen weit mehr als 1.000 Lehrkräfte beraten, sehr viele davon aus NRW.
Isabell Probst, Coach
Die Anfragen seien enorm gestiegen, so Probst. "Da entsteht gerade eine ganze Industrie rundum Hilfeleistungen für Lehrkräfte, damit sie entweder durchhalten oder befähigt werden, sich dann beruflich zu verändern". Kim Lange hat 1.300 Euro für das Coaching bezahlt. Das sei es aber wert gewesen. Jetzt arbeitet die ehemalige Mathematiklehrerin für einen Schulbuchverlag und hat sich von ihrem Burnout erholt.
Opposition fordert große Investitionen in Bildung
Trotz all dieser Probleme glaubt Schulministerin Dorothee Feller (CDU) nicht, dass viele Lehrkräfte kündigen. Nach Rückfragen bei den Bezirksregierungen könne sie das nicht bestätigen, wolle aber bei jedem Einzelfall differenziert hinschauen.
SPD und FDP in der Opposition fordern deutlich mehr Geld für Bildung, um die Lehrkräfte langfristig zu entlasten. Die bisherigen Maßnahmen seien zu wenig. "An diese Reformen wagt sich die Ministerin nicht ran", kritisiert der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Jochen Ott.
Immer mehr arbeiten Teilzeit und hören mit 63 Jahren auf
Wie viele tatsächlich kündigen, hat das Feller-Ministerium bislang nicht veröffentlicht. Es gibt allerdings andere Zahlen, die die große Belastung von Lehrkräften zeigen. Nach Angaben des statistischen Landesamtes IT.NRW arbeiten inzwischen 48 Prozent der Grundschullehrkräfte in Teilzeit. Und immer weniger halten den Beruf bis zum Erreichen der Regelalterszeit durch. Im Jahr 2021 war die Hälfte der neu in Pension gegangenen Lehrkräfte erst 63 Jahre alt, so IT.NRW.
Ohnmacht und Hilflosigkeit
Die erkrankte Grundschullehrkraft, die anonym bleiben möchte, ist fast ein Jahr nicht in der Schule. Bei der Rückkehr merkt sie schnell, dass sich wenig verbessert hat. Sie schreibt dem WDR:
Außerdem hätten Kolleginnen und Kollegen in einer Fortbildung einen Griff gelernt, wie sie Kinder fixieren können, um sie in den Raum bringen zu können.
Über körperliche Übergriffe von Kindern auf Lehrpersonen berichtet dem WDR auch eine andere Lehrkraft. Auch sie möchte unerkannt bleiben, weil auch sie noch nicht aufgegeben hat. Es mache sie ohnmächtig und traurig, dass Kolleginnen ganz kündigen oder innerlich kündigen und dann ihre Arbeitszeit in der Schule scheinbar "absitzen" und nur noch durchstehen wollen.