Um das Infektionsgeschehen zu beurteilen, schlägt der Bonner Virologe Hendrik Streeck einen anderen Blickwinkel vor. "Wir starren jeden Tag auf die Infektionszahlen, die aber im Grunde sehr wenig relevant für das Pandemiegeschehen sind", sagte Streeck dem WDR am Sonntag. Relevanter seien etwa die Belegung der Krankenhausbetten, die Kapazitäten und die Ressourcen im Gesundheitssystem. "Danach könnten wir dann die Maßnahmen ausrichten und auch sagen, ob bestimmte Lockerungen sinnvoll wären", so Streeck.
Von Bedeutung seien auch die Anzahl der Tests, die es braucht, um einen Corona-Infizierten zu finden. Auch die Todeszahlen bringt Streeck ins Gespräch: Diese würden nicht steigen, obwohl die Infektionszahlen in die Höhe klettern. "Wenn viele ohne Symptome infiziert sind, dann hat das erstmal noch keinen Einfluss auf die Pandemie", erläuterte Streeck. Es sei aktuell zudem gar nicht gesichert, ob diese Infizierten die Krankheit weitergeben könnten.
Lauterbach: "Diskussion muss man führen"
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat auf Twitter begrüßt, dass Streeck die Diskussion ins Rollen bringt. Aus seiner Sicht solle man aber nach wie vor die Zahl der Fälle zum Schwerpunkt der Pandemiebekämpfung machen. "Nicht die Zahl der Toten oder der Krankenhauseinweisungen."
Internist Michael Hallek von der Uniklinik Köln plädiert ebenfalls dafür, weiter auf die Infektionszahlen zu schauen – aber nicht nur. "Wir müssen stets die Gesamtsituation betrachten und nicht auf einen, sondern auf viele Parameter achten." Dazu zählen auch die Todeszahlen, der R-Wert sowie Hotspots. "Wenn an einem einzigen Ort sehr schnell viele Neuinfektionen auftreten, kann es zu unkontrollierten Situationen kommen."
Keine Weltmeister im Umgang mit dem Virus
Für die derzeit niedrigen Todeszahlen, die Streeck anführt, sieht Hallek zwei Gründe: Erstens hätten sich in der Urlaubssaison vermehrt jüngere Menschen infiziert; zweitens würden Ältere mittlerweile besser geschützt – beispielsweise durch die Kooperation von Gesundheitsämtern und Altenheimen. "Das gibt es in vielen anderen Ländern so nicht."
Virologe Rolf Kaiser von der Uniklinik Köln verweist zudem auf eine gute, medizinischen Versorgung. Das habe sich schon zu Anfang der Pandemie gezeigt: In Deutschland habe man die Virusinfektionen nicht über die Toten entdeckt, sondern über Diagnostik. Das mache einen grundsätzlichen Unterschied. "Wir waren durch Italien vorgewarnt und haben geschaut, ob wir schon Fälle haben. So konnten wir die Menschen früh in Behandlung geben." Betrachtet man das weltweite Infektionsgeschehen, bewegt sich Deutschland allerdings nur im Mittelfeld. "Wir machen es nicht schlecht, aber wir sind auch nicht die Weltmeister", so Internist Hallek.
Kaiser begrüßte gegenüber dem WDR, dass Streeck weitere Faktoren "ins Rennen wirft". Die Infektionszahlen seien jedoch weiter wichtig, weil sie das früheste seien, was man bei den Menschen erkennen kann: "Sie zeigen den Motor der Pandemie, also wie verbreitet sich das Virus." Zudem kenne man das Virus noch nicht lange, daher seien die möglichen Langzeitschäden bei Menschen mit scheinbar geringen Symptomen noch nicht bekannt.