Ein Mehrfamilienhaus in Siegen am Hang. Der Blick vom Balkon geht über die neblige Stadt. Hier lebt Eva Steuber, 62 Jahre alt, wegen einer Krankheit frühverrentet. Für den Besuch der Reporterin hat sie die Heizung ausnahmsweise ein klein bisschen höher gedreht. Normalerweise heizt sie nur bis 16, 17 Grad.
Eva Steuber bezieht 960 Euro Rente. Mit der Inflation und steigenden Heizkosten kann sie sich nur wenig leisten. Das Geld reicht gerade so für Essen und die Miete ihrer Zweizimmerwohnung.
Vom Staat bekommt sie monatlich 30 Euro. Klingt nicht nach viel Geld, doch Eva Steuber kann dafür Lebensmittel für eine Woche einkaufen.
Wohngeld-Reform: Noch mehr Wartezeit?
Es sind Menschen wie Eva Steuber, Menschen mit wenig Geld, die die Ampel-Koalition "spürbar entlasten" will. Darum hat sie eine große Reform des Wohngelds beschlossen. Der Mietzuschuss soll ab dem 1. Januar durchschnittlich doppelt so hoch ausfallen. Und mehr Menschen sollen Wohngeld beantragen können.
In NRW beziehen derzeit 160.000 Haushalte Wohngeld, ab dem nächsten Jahr könnten es laut NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) 480.000 sein. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) preist die Reform als "größte Wohngeldreform seit 57 Jahren".
Das Problem: Viele Behörden rechnen mit massiven Verzögerungen bei der Bearbeitung der Anträge. Schon in diesem Jahr braucht die Stadt Siegen Monate, bis sie Eva Steuber das Wohngeld überweist.
Anfang Februar reicht Eva Steuber den vollständigen Antrag mit allen erforderlichen Unterlagen ein. Im August heißt es: Die Bearbeitung dauert länger. Erst, als Eva Steuber sich beim Leiter der Wohngeldstelle beschwert, wird das Wohngeld überwiesen. Neun Monate später.
Auf Anfrage an die Siegener Stadtverwaltung, wie es zu der langen Wartezeit kam, teilt diese mit, der Antrag von Frau Steuber sei "so schnell wie möglich und schließlich ja auch positiv beschieden worden".
WDR-Umfrage zeigt Überlastung bei Wohngeld
In vielen Kommunen in NRW stauen sich die Wohngeldanträge. Der WDR hat alle Kommunen zur Situation in den Wohngeldstellen befragt. 274 von 396 Kommunen haben geantwortet. In mehr als jeder fünften Kommune liegt die Bearbeitungszeit demnach bei über zwei Monaten, bei jeder zehnten Kommune schon jetzt bei mehr als drei Monaten. Siegen ist einer der Spitzenreiter mit einer durchschnittlichen Wartezeit von fünf bis sechs Monaten.
Wie lange sind die Wartezeiten meiner Stadt oder Kommune?
In unserer Wartezeiten-Karte können Sie selbst herausfinden: Wie lange müssen Wohngeld-Berechtigte in meiner Heimat warten?
Was die langen Bearbeitungszeiten für Betroffene bedeuten
Neun Monate auf das Wohngeld zu warten, das bedeutet für Eva Steuber aus Siegen: 30 Euro fehlen ihr im Monat, viele Dinge, die ihr Leben schön machen würden, kann sie sich nicht leisten.
Mit dem Bus zu Kindern und Enkelkindern fahren. In einem Café einen Kaffee trinken gehen. Ein Wollknäuel zum Stricken kaufen. Oder einen Topf Farbe, um ein gebrauchtes Möbelstück zu restaurieren.
Eva Steuber liest ihre alten Bücher nochmal von vorn, weil sie kein neues kaufen kann. Selbst den Ausweis für die Stadtbücherei mag sie sich nicht leisten: "Ich traue mich im Moment nicht, weil ich einfach nicht weiß, was kommt. Ich wüsste auch nicht, wann ich mir das letzte Mal neue Klamotten gekauft habe". Bei der Frage, ob ihre löchrige Jeans geflickt sei, muss sie kurz lachen: "Nein, das trägt man heute so. Auch mit 62."
Dann wird sie wieder ernst. Und erzählt vom schlimmsten Verzicht:
Dennoch hat Eva Steuber großes Verständnis für die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter im Sozialamt: "Wenn eine Flut von Anträgen kommt, dann kann ich keinen Vorwurf daraus machen. Sie können auch nicht mehr als arbeiten."
Einzelne Städte rechnen mit "Kollaps des Wohngeldsystems"
Eine Flut von Anträgen, damit haben viele Wohngeldstellen jetzt schon zu kämpfen. Die WDR-Umfrage zeigt, dass es in vielen Kommunen schon jetzt einen erschreckend hohen Rückstau an Anträgen gibt. Zum Stichtag 1. Dezember 2022 lagen etwa bei der Stadt Essen 4.315 offene Wohngeld-Anträge vor. Zum Vergleich: 1.500 Anträge können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Monat bearbeiten.
Gleichzeitig sind die Bedingungen in den Ämtern schwierig: 60 Kommunen geben in der WDR-Datenabfrage an, dass Stellen unbesetzt sind - 22 Prozent der teilnehmenden Kommunen. Die Datenabfrage zeigt aber auch: Viele Ämter treffen bereits Maßnahmen, um sich auf die erwartete Verdreifachung der Wohngeld-Anträge ab 2023 vorzubereiten.
Aber Personal einstellen ist leichter gesagt als getan. Einige Kommunen berichten von erfolglosen Stellenausschreibungen, weil einfach kein neues Personal zu finden ist. In Antworten auf die WDR-Umfrage klingt Verzweiflung durch:
Vorläufige Prüfung der Anträge als Lösung?
Bund und Länder wollen nun die Antragsverfahren beschleunigen und erleichtern. Das Bundesbauministerium hat am Freitag mitgeteilt, dass das Wohngeld auch formlos per Telefon oder E-Mail beantragt werden kann. Außerdem sollen Behörden nach vereinfachter Prüfung vorläufig das Wohngeld auszahlen können. Der Antrag wird später erneut geprüft.
Es kann dazu kommen, dass die Kommune feststellt: Eine Person hat zu viel Geld bekommen oder ist doch nicht berechtigt. Wenn der Betrag über 50 Euro liegt, muss sie das Geld zurückzahlen. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, begrüßt die Möglichkeit zur vorläufigen Auszahlung:
Die Arbeit für die Kommunen mit dem riesigen Berg an Anträgen ist dadurch also nicht gelöst. Sie verschiebt sich nur nach hinten.
Eva Steuber aus Siegen wird Anfang 2023 wieder ihren Antrag auf Wohngeld erneuern. Diesmal geht sie davon aus, dass es noch länger dauern wird, bis das Geld auf ihrem Konto landet. Vielleicht sogar ein Jahr.
Über dieses Thema berichten wir am 19.12.2022 unter anderem auch im WDR 5 Morgenecho und in der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.