Die vierspurige Otto-Suhr-Allee im Westteil Berlins erinnert an einen Gewerkschafter, Wissenschaftler und Politiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg für die geteilte Stadt große Bedeutung hat. Auch wenn er nicht so bekannt ist wie sein Amtsvorgänger Ernst Reuter und sein Nachfolger Willy Brandt: Als Regierender Oberbürgermeister sichert Otto Suhr (alle SPD) durch seine Politik dem Westteil Berlins das Überleben.
Geboren wird Otto Suhr am 17. August 1894 in Oldenburg. Wegen des Ersten Weltkrieges unterbricht der Beamtensohn sein Studium der Volkswirtschaft, Geschichte und Zeitungswissenschaft. Er geht als Soldat an die Front. Nach Kriegsende tritt er in die SPD ein, beendet seine Universitätsausbildung in Leipzig und arbeitet in der Gewerkschaftsbewegung, ab 1926 in Berlin.
Von der Gestapo verdächtigt
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verliert Suhr 1933 seine Anstellungen als Gewerkschaftssekretär und Dozent für Politikwissenschaft. Anschließend wird er freier Journalist und schreibt vorwiegend als Wirtschaftskorrespondent für die "Frankfurter Zeitung". "Das war seine Überlebensstrategie", sagt Historiker Kurt Lange, der eine Otto-Suhr-Biografie verfasst hat. "Unabhängig davon hat er natürlich seine politischen Kontakte, auch zu Widerstandskreisen während dieser Zeit nach wie vor gepflegt."
Auch die Ehe mit einer Jüdin macht Suhr für die Gestapo verdächtig. Um der Verhaftung zu entkommen, taucht er einige Monate vor Kriegsende unter. Nach der deutschen Kapitulation ist der ökonomische Sachverstand des promovierten Volkswirts gefragt. Ende Mai 1945 wird er von den sowjetischen Besatzungsbehörden in die neue Wirtschaftsverwaltung berufen.
Baut Berliner SPD auf
Suhr organisiert zudem den Neuanfang der Berliner SPD. Doch die Sowjets setzen auf die Kommunisten. "Insofern hatte er Bedenken gegen die Fusion der Berliner SPD mit der KPD zur SED im April 1946", sagt Historiker Lange. "Er hat sich dann auch sehr stark gemacht für eine neue, unabhängige SPD in Berlin." Mit Suhr als Generalsekretär gewinnt die Partei im Herbst 1946 die Wahlen zum Stadtparlament. Die Abgeordneten wählen ihn zum Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung.
Derweil eskalieren die Spannungen zwischen den Besatzungsmächten. Die Währungsreform der Westalliierten dient Stalin als Vorwand, um im Juni 1948 die Land- und Wasserwege nach West-Berlin abzuriegeln.
Rektor der Hochschule für Politik
Suhr kämpft währen der Blockade an vielen Fronten - unter anderem auch für die Neueröffnung der Deutschen Hochschule für Politik. Im Januar 1949 ist es so weit: Suhr wird Rektor und lehrt als Professor. Sein Credo: "Für uns gibt es keine unpolitischen Menschen, aber es gibt ausgesprochen politische Menschen, die sich zur politischen Tätigkeit berufen fühlen, und denen wollen wir helfen."
Im Mai 1949 endet die Berlin-Blockade; Tage später wir die Bundesrepublik gegründet. Suhr ist als Mitglied im Verfassungskonvent und des Parlamentarischen Rates einer der Väter des Grundgesetzes.
Für "eine wahre Demokratie des Volkes"
Suhr versucht, die Position West-Berlins zu stärken. Doch das gelingt nur teilweise. So gehören er und Willy Brandt zu den ersten Berliner Bundestagsabgeordneten, die zwar ein Rede-, aber kein Stimmrecht haben. Genauso wenig ist West-Berlin ein Teil der Bundesrepublik, sondern untersteht weiterhin dem alliierten Militärkommando.
Trotzdem verabschiedet das Berliner Abgeordnetenhaus im Herbst 1950 eine Landesverfassung. Es geht um Symbolik: "Wir wollen damit ein Beispiel lebendigen Volkswillens in der Zone des uns umgebenden Polizeistaats sein, eine wahre Demokratie des Volkes, statt der vorgespielten Volksdemokratie."
Aufbauprogramm stärkt Berlin
Bei den Abgeordnetenhauswahlen 1953 holt der SPD-Spitzenkandidat Suhr die absolute Mehrheit der Mandate. Dennoch bildet er mit der CDU eine große Koalition. Im Januar 1955 wird er Regierender Bürgermeister und erklärt: "Das Programm des Senats stellt den weiteren wirtschaftlichen Aufbau an die Spitze aller Aufgaben, um die Kräfte und Mittel frei zu bekommen für soziale Hilfen und kulturellen Leistungen. Die Regierung will eine soziale Koalition."
Suhrs Berliner Aufbauprogramm führt zur engen finanziellen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Bundesrepublik. Er erhält damit die Frontstadt am Leben. Genauso wichtig ist ihm aber, dass die Teilung der Stadt nicht von der politischen Agenda verschwindet: "Wir halten uns bereit für den Tag, an dem wir wieder hier stehen werden mit der glücklichen Parole: Berlin ist frei, Deutschland geeint."
Nur zweieinhalb Jahre im Amt
Das Wirken von Otto Suhr nimmt ein jähes Ende. Er ist gerade einmal zweieinhalb Jahre Regierender Bürgermeister, als er mit 63 Jahren am 30. August 1957 in Berlin an den Folgen seiner Leukämieerkrankung stirbt.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 30. August 2017 ebenfalls an Otto Suhr. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 31.08.2017: Vor 15 Jahren: Zeche Zollverein wird UNESCO-Welterbe