Ein Dreivierteljahr vor Eröffnung neigen sich die Flügel des Berliner Hauptbahnhofs aus dem Himmel gen Erde. Die beiden Bügelbauten, zunächst in die Höhe gebaut, werden an gewaltigen Seilen wie zwei Hälften einer Zugbrücke heruntergelassen, bevor sie zentimetergenau über der Bahnhofshalle zusammentreffen.
Die Senk-Aktion ist eine ingenieurtechnische und statische Meisterleistung, wie der gesamte, vom Architekten Meinhard von Gerkan entworfene Bau, dessen Betonhaut 15 Meter tief in den wässrigen Untergrund Berlins gegossen ist. Mehr als einhundert Patente auf neue Konstruktionsverfahren werden die Ingenieure am Ende der Bauzeit angemeldet haben.
Zug um Zug - auf zwei Ebenen
Im deutschen Kaiserreich hat Berlin zehn Fernbahnhöfe, die alle in der Hand unterschiedlicher Unternehmen sind. Passagiere müssen zur Weiterreise teils die ganze Stadt durchqueren. Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt im Westen nur der Bahnhof Zoo übrig, in der DDR wird der heutige Ostbahnhof zum Hauptbahnhof.
Nach dem Fall der Mauer wählt Bahn-Chef Hartmut Mehdorn das Niemandsland an der Stelle des Lehrter Bahnhofs im neuen Stadtzentrum aus, um ein verkehrstechnisches Zentrum zu errichten. Am Ende entsteht ein Kreuzungsbahnhof, der unter dem gigantischen Glasdach eine Ost-West-Trasse hat, während im Untergrund Züge in Nord-Süd-Richtung ein- und auslaufen. Daneben finden im Gebäude auch noch 62 Geschäfte auf drei Zwischengeschossen Platz.
"Ein wirklich schönes Bauwerk"
Am 26. Mai 2006 wird der neue Berliner Hauptbahnhof feierlich eingeweiht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fährt mit einem ICE aus Leipzig ein. "Ich bin überwältigt", sagt Merkel, "und ich glaube, es ist ein wirklich schönes Bauwerk." Am nächsten Tag um 0 Uhr 29 startet mit dem Regionalexpress 38366 nach Eberswalde der fahrplanmäßige "Regelverkehr" - Berlin hat einen Hauptbahnhof.
Aber es ist ein Bauwerk, das auch Mängel hat. 1,2 Milliarden Euro statt der geplanten 700 Millionen Euro hat der Bau am Ende verschlungen. Die Deutsche Bahn als Betreiber hat massiv in den architektonischen Entwurf Gerkans eingegriffen und unter anderem das 430 Meter lange Glasdach auf 300 Meter gekürzt. Außerdem sind viele Räume bis heute nicht vermietet.
"Kein Lametta"
"Wir brauchen keine Schnörkel und architektonischen Wunderdecken", gibt Bahn-Chef Hartmut Mehdorn zur Begründung für die Veränderungen an – und erstickt alle Rufe nach Nachbesserungen im Keim: "Wir brauchen hier einfache, leicht zu reinigende Decken. Da wird kein Lametta übers Ohr gehängt – das bleibt jetzt so, wie es ist."
Der entsetzte Gerkan klagt – und bekommt Recht in einem Urheberprozess, der zum Präzedenzfall wird. Seitdem gilt: Die Gestaltungsinteressen des Architekten stehen über den pragmatisch-ökonomischen Wünschen des Auftraggebers.
Stand: 26.05.2011
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