Immer mehr Opfer-Angehörige und auch die anfangs noch zurückhaltende Opposition werfen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und den Behörden völlig unzureichende und zu langsame Unterstützung vor. "Wo ist der Staat? Wo waren sie zwei Tage lang?", sagte etwa Sabiha Alinak in der Stadt Malatya. Sie stand in der Nähe eines schneebedeckten eingestürzten Gebäudes, in dem am Mittwoch ihre jungen Verwandten feststeckten.
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu griff Erdogan direkt an. "Wenn hier irgendjemand für diesen Prozess verantwortlich ist, dann ist es Erdogan." Die Regierungspartei habe es 20 Jahre lang versäumt, das Land auf ein Erdbeben vorzubereiten.
Drei der wichtigsten Kritikpunkte:
Vorwurf 1: Zu wenig politisches Engagement
Diese Versäumnisse könne man "ihm faktisch nachweisen", sagt Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik am Freitag dem WDR. Die Opposition habe zum Beispiel in den letzten Jahren 75 Anträge gestellt, um die Erdbebensicherung voranzutreiben und die Maßnahmen transparent zu gestalten - 70 davon seien abgelehnt worden.
Im Haushalt würden zudem kaum Mittel für die Erdbebenvorsorge aufgewendet. Es gebe zwar eine Erdbebensteuer, die sei aber eben nicht in die Vorsorge geflossen. Wo das Geld ist, bleibt unklar.
Die Opposition hatte bereits vor zwei Jahren bei einem Beben nach dem Verbleib der Einnahmen aus der Steuer gefragt, worauf Erdogan antwortete, man habe keine Zeit mehr, dazu Rechenschaft abzulegen.
Der türkische Oppositionsführer Kilicdaroglu hatte am Montag noch erklärt, jetzt sei nicht die Zeit für Kritik, sondern für Einheit. Inzwischen spricht er von einer "systematischen Profitpolitik". Er warf der Regierung vor, nicht mit den lokalen Behörden zusammenzuarbeiten. Außerdem habe sie Nichtregierungsorganisationen geschwächt, die hätten helfen können.
Kritik kam auch von Nasuh Mahruki, der nach dem verheerenden Beben von 1999 eine Such- und Rettungsgruppe gegründet hatte. Unter Erdogans Regierung sei die Armee von ihrer Verpflichtung zur Katastrophenbekämpfung entbunden worden. Ein Protokoll, das es der Armee ermöglicht hätte, ohne übergeordnete Anweisungen auf das Beben zu reagieren, sei abgeschafft worden. Darum sei sie jetzt nicht rechtzeitig in Aktion getreten. Die Verantwortung liege nun offenbar bei der Katastrophenschutzbehörde AFAD. "Aber die ist auf ein so kolossales Problem nicht vorbereitet."
Vorwurf 2: Korruption in der Baubranche
Zusätzlich gebe es das Problem der Korruption in der Baubranche, sagte etwa CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler dem WDR, daher müsse nun die Frage gestellt werden, ob gepfuscht wurde. Wenn man sich etwa die Bilder aus den Katastrophen-Gebieten anschaue, frage man sich, warum in einer Straße nur ein, zwei Häuser zerstört wurden, während der Rest unversehrt geblieben sei.
Die Kritik an den türkischen Behörden im Umgang mit Bauvorschriften nimmt zu. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurs-Kammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst.
Mohammad Kashani, außerordentlicher Professor für bauliches- und Erdbeben-Ingenieurswesen an der University of Southampton in Großbritannien, sagte mit Blick auf die Fotos von zerstörten Häusern, die Gebäude seien für ein Beben dieser Stärke nicht ausgelegt gewesen.
Die Türkei hat seit dem Erdbeben 1999 in Izmit, bei dem mehr als 17.000 Menschen starben, strengere Bauvorschriften. Häuser, die nach 1999 gebaut wurden, gelten in der Regel als erdbebensicher. Allerdings haben dort viele ältere Gebäude Ziegelwände und bestehen aus minderwertigem Beton.
Vorwurf 3: Umgang der Regierung mit den sozialen Medien
Die laute Kritik ruft zum Teil auch die türkische Polizei auf den Plan. Im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien nach dem schweren Erdbeben wurden 37 Nutzer festgenommen. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", so die Polizei am Freitag. Es seien zudem mehrere Webseiten geschlossen worden, weil die Betreiber die Gutmütigkeit der Bürger ausnutzen und sich etwa Spendengelder erschwindeln wollten, teilte die Polizei mit.
Gerade Social Media könne in Katastrophen-Fällen von besonderer Bedeutung sein, sagte WDR-Digitalexperte Jörg Schieb. So funktionierten die Dienste selbst dann, wenn kaum noch Bandbreite im Mobilfunknetz zur Verfügung stehe. Opfer könnten beispielsweise um Hilfe bitten und die Helfer könnten sich organisieren.
Ein Großteil der klassischen Medien steht in der Türkei unter Kontrolle der Regierung. Soziale Medien sind in der Türkei ein wichtiger Kanal zur alternativen Informationsgewinnung, einige Beiträge sind aber schwer zu verifizieren. Am Mittwoch war Twitter in der Türkei zwischenzeitlich gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen.
Der Präsident hat die Kritik zurückgewiesen. Am Freitag erklärte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet werde, wie die Regierung dies gerne wolle. Zudem sagte er, dass einige Menschen Märkte ausraubten und Geschäfte angriffen. Der verhängte Ausnahmezustand werde es dem Staat ermöglichen, die nötigen Strafen zu verhängen.
Die Menschen in den Erdbebengebieten sollten ihrem Staat vertrauen, sagte Erdogan, und "Lügen und Provokationen" in den sozialen Medien keine Beachtung schenken.
Türkeiforscher kritisiert zudem schlechten Stil
Zu den harten Vorwürfen gegen Erdogan komme noch schlechter Stil hinzu, sagte Türkeiforscher Seufert am Freitag. Nach der Katastrophe habe der Präsident zum Beispiel zunächst nur bei den Bürgermeistern angerufen und sich nach der Lage erkundigt, die auch seiner Partei angehörten. Bei Hilfslieferungen lasse die Regierung die Schilder entfernen, an denen man die Herkunft der Hilfe sehen könne und bringe stattdessen Schilder der türkischen Rettungsorganisationen an.
Konsequenzen für die Wahlen im Mai?
Wenn die Öffentlichkeit der Regierung Versagen beim Krisenmanagement vorwirft, könnte dies Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl schmälern. Ein Regierungsvertreter sagte jedoch, dass es noch zu früh sei, überhaupt über die Wahl zu sprechen. Schließlich lebten 15 Prozent der Türken in den vom Beben betroffenen Gebieten. "Im Moment gibt es sehr ernste Schwierigkeiten, wie geplant am 14. Mai eine Wahl abzuhalten."
Erdogan strebt im Mai seine Wiederwahl an. Umfragen zufolge kann er sich seines Sieges jedoch keinesfalls sicher sein. "Wenn die Wahl dennoch stattfindet, ist davon auszugehen, dass sich das Erdbeben negativ für Erdogan auswirkt", so Günter Seufert. Es komme jedoch auf die Opposition an, ob sie in der Lage sei, sich zu einigen.