Gruppenbild bei einer privaten Silvesterfeier in den 1920er-Jahren

31. Dezember 1922 - Das Jahr 1922: So war es vor hundert Jahren

Jahresrückblick 1922: Was beschäftigt die Menschen damals? Und welche Ereignisse stellen sich erst im Nachhinein als folgenreich heraus? Ein Blick auf die Geschichte vor 100 Jahren aus heutiger Sicht.

Kaum vier Jahre sind vergangen seit dem Weltkrieg, von dem 1922 noch niemand weiß, dass er später einmal der Erste Weltkrieg heißen wird. Kaum zwei Jahre ist es her, seit die Spanische Grippe noch mehr Todesopfer gefordert hat als der Krieg. 1922 veröffentlicht der Ire James Joyce seinen Roman "Ulysses". Der Kernsatz darin lautet: "Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche."

Der in London lebende US-Dichter T. S. Eliot antwortet mit einem ebenfalls bahnbrechenden Werk: Auch sein Gedichtzyklus "The Waste Land" ("Das öde Land") thematisiert die Vereinzelung und Ratlosigkeit des modernen Menschen. In ganz Europa ist die Stimmung diffus. Alte Gewissheiten haben sich aufgelöst, die Unsicherheit hält weiter an. Die materielle Lage ist prekär - besonders in Deutschland, wo bis vor Kurzem noch das Kaiserreich eine große Zukunft versprochen hat.

Das Jahr 1922: So war es vor hundert Jahren

WDR Zeitzeichen 31.12.2022 14:38 Min. Verfügbar bis 31.12.2090 WDR 5


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Außenminister Rathenau ermordet

In den deutschen Zeitungen gehört zu den wichtigsten Informationen, wo gerade frische Kartoffeln aus den Niederlanden angekommen sind. Deutschland hatte im Versailler Vertrag die Kriegsschuld anerkannt und muss hohe Reparationszahlungen leisten.

Das nutzen in der Weimarer Republik die Demokratie-Gegner von rechts aus. Sie hetzen gegen Außenminister Walter Rathenau, der versucht, mit den Siegermächten eine Einigung zu finden. Er wird am 24. Juni 1922 in Berlin auf offener Straße erschossen. Allein in Berlin protestieren eine Million Menschen gegen die Mörder. Doch die Justizbehörden verschleiern, dass es sich um den Komplott einer gut vernetzten rechtsradikalen Organisation handelt, die weitgehend unbehelligt bleibt.   

Film-Gruseln bei "Nosferatu" und "Dr. Mabuse"

Im August 1922 macht Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) den nationalistischen Republikgegnern ein Besänftigungsangebot: Er erklärt ein umstrittenes Lied zur neuen Nationalhymne - das "Lied der Deutschen". Erbert will, dass bei offiziellen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen wird. Doch die Rechtsnationalisten halten sich nicht daran. Sie singen weiterhin: "Deutschland, über alles in der Welt!"

Die meisten Menschen bleiben politischen Debatten 1922 fern. Wer es sich leisten kann, geht ins Kino. So ist es möglich, sich der unüberschaubaren Wirklichkeit durch fiktionale Bilder zu entziehen. Doch auch im Kinosessel sind die Zuschauer nicht vor verstörenden Eindrücken sicher: In Deutschland kommen der Vampirfilm "Nosferatu" von Friedrich Wilhelm Murnau und die Verbrecher-Geschichte "Dr. Mabuse" von Fritz Lang auf die Leinwand.

Beginn der Hyperinflation

Das Publikum gruselt sich gern in diesem kühlen, verregneten Sommer - und konsumiert dabei vielleicht die "Tanzbären" aus Glukosesirup, die die Firma Hans Riegel in Bonn gerade auf den Markt gebracht hat. Heute sind sie weltweit als "Haribo-Gummibärchen" bekannt.

In der zweiten Jahreshälfte 1922 eskalieren in Deutschland allerdings die wirtschaftlichen Probleme. Nach der Ermordung Rathenaus kommt es an der Börse zu Kursstürzen, die Regierung druckt Geld, um die Reparationen und Hilfen für die ärmere Bevölkerung zu finanzieren. Die Inflation nimmt Fahrt auf. Ein Teddybär als Geschenk zu Weihnachten kostet bereits 10.000 Mark. Das ist der Beginn der Hyperinflation, die 1923 ihren Höchststand erreicht.

Mussolini, Stalin, Hitler

Auch politisch steuert Europa auf kommende Katastrophen zu: In Italien kommt 1922 Faschistenführer Mussolini an die Macht - und in der Sowjetunion rückt Stalin als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU zum potenziellen Nachfolger Lenins auf. Und in Bayern kann Adolf Hitler schon bis zu 50.000 Anhänger mobilisieren, die erstmals in braunen Hemden und mit Hakenkreuzfahnen marschieren.

Im Münchner Löwenbräukeller hat Hitler bei der Rede seines politischen Konkurrenten Otto Ballerstedt vom "Bayernbund" die Bühne gestürmt und ihn mit einem Holzstock krankenhausreif geprügelt. Dafür muss er 1922 für einen Monat ins Gefängnis. Rund 17 Jahre später ist Hitler in Deutschland längst an der Macht und löst mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus.

Autor des Hörfunkbeitrags: Thomas Pfaff
Redaktion: David Rother

Programmtipps:

ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 31. Dezember 2022 an das Jahr 1922. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.

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