Washington, 22. Januar 1917: Im Sitzungssaal des Kapitols tritt um 13.00 Uhr US-Präsident Woodrow Wilson an das Rednerpult. Der Anlass dafür ist schrecklich. In Europa herrscht im 30. Monat Krieg. Millionen Menschen sind bereits gestorben - in Schlachten bei Verdun, an der Somme, an der Ostfront. Ein Ende des Grauens ist nicht in Sicht.
Eindringlich wirbt Wilson für einen "Frieden ohne Sieg". Er will einen Verhandlungsfrieden, keinen Beutefrieden. Für ihn geht es um Versöhnung statt Triumph, um Gerechtigkeit statt Rache. "Sieg würde einen Frieden bedeuten, den man dem Verlierer aufzwingen würde", erklärt der US-Präsident den anwesenden Senatoren. "Solch ein Frieden wurde niemals halten. Er wäre auf Treibsand gebaut." Nur ein Frieden zwischen Gleich und Gleich sei von Dauer.
Völkerbund soll Frieden schaffen
Wilson skizziert eine völlig neue Weltordnung - und kritisiert dabei Europa. Die großen europäischen Dynastien verstehen seit Jahrhunderten unter Friedenssicherung nichts anderes, als Bündnisse zu schließen. Dieses sogenannte Gleichgewicht der Mächte kippt leicht. Das bedeutet immer wieder Krieg, bei dem die kleinen Länder hin und her manövriert werden. "Das ist ein System, das er für völlig korrupt und gescheitert hält", sagt Historiker Manfred Berg über Wilson.
Wilson will durch einen Frieden nicht wieder das alte Gleichgewicht der Mächte herstellen. Er fordert, eine Weltorganisation kollektiver Sicherheit zu gründen: einen Völkerbund, dem auch die USA beitreten sollen. Den Kern von Wilsons Friedensplan bildet laut Historiker Berg "ein System allgemeiner Sicherheit unter gleichberechtigten und möglichst demokratischen Nationalstaaten". Diese Neuordnung der Welt soll unter amerikanischer Führung geschehen.
Kriegsparteien lehnen Wilsons Ideen ab
In Europa kommt die Frieden-ohne-Sieg-Rede von Wilson nicht gut an. Die Entente - bestehend aus Großbritannien, Frankreich, Russland und ihren Verbündeten - ist verärgert. Denn ein Frieden ohne Sieg hätte für sie unangenehme Folgen. "Es würde keine Reparationen und keine territorialen Veränderungen in größerem Umfang geben", sagt Historiker Berg. Das Deutsche Reich lehnt den Plan ebenfalls ab. Auf einen früheren Friedensappell Wilsons vom Dezember 1916 hatte Kaiser Wilhelm geschrieben: "Auf vorzeitigen Bedingungsquatsch und allgemeines Gekakel wird nicht eingegangen!"
Europas Kriegsparteien wollen nicht, dass ihnen jemand erklärt, was sie zu tun und zu lassen haben. Bislang hatten sich die USA aus Streitigkeiten der Alten Welt immer herausgehalten. Es galt die sogenannte Monroe-Doktrin, formuliert 1823 vom damaligen Präsidenten James Monroe. Nichteinmischung war bis zum Ersten Weltkrieg das Prinzip amerikanischer Außenpolitik. Auch Wilson hat sich zunächst daran gehalten. Bei Kriegsbeginn 1914 fordert er seine Landsleute auf, neutral zu bleiben - um des inneren Friedens willen. Viele US-Bürger haben Wurzeln in den jetzt Krieg führenden Ländern.
Kriegseintritt der USA
Doch der Krieg spitzt sich zu - und betrifft die USA selbst. Denn ab 1915 führt das Deutsche Reich einen sogenannten uneingeschränkten U-Boot-Krieg, bei dem auch hunderte US-Bürger im Atlantik sterben. Der strenggläubige Calvinist Wilson will dem Gemetzel nicht länger zusehen. Schließlich tritt er am 2. April 1917 vor den Kongress. Er plädiert zwar immer noch wie im Februar für einen Frieden ohne Sieg, aber jetzt wirbt er gleichzeitig für den Eintritt in den Krieg. Dieser solle nicht um Rohstoffe oder Länder geführt werden, sondern zur Verteidigung moralischer Werte. Vier Tage später erklären die USA dem Deutschen Reich den Krieg.
Im Januar 1919, wenige Wochen nach Kriegsende, reist Wilson nach Frankreich. Sein 14-Punkte-Programm auf der Basis der Frieden-ohne-Sieg-Rede ist die Grundlage für die Friedensverhandlungen in Versailles. Viele von Wilsons Vorstellungen werden jedoch aufgrund der nationalen Interessen der Alliierten nicht umgesetzt. Allerdings verhindert er die von Frankreich geforderte Rheingrenze.
Kein Beitritt zum Völkerbund
Wilsons Bilanz ist gemischt: 1919 wird er zwar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Aber als 1920 der neu gegründete Völkerbund seine Arbeit aufnimmt, geschieht das ohne Beteiligung der USA. Die republikanische Kongressmehrheit stimmt gegen einen Beitritt - und den Willen des demokratischen Präsidenten. Das Argument: Niemals dürften die USA sich anderen unterordnen.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Januar 2017 ebenfalls an Woodrow Wilsons Frieden-ohne-Sieg-Rede. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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