Stichtag

20. Juni 1991 - Bundestag stimmt für den Umzug nach Berlin

Gebannt verfolgen die Menschen auf dem Bonner Marktplatz die historischen Ereignisse auf der Großbildleinwand. Übertragen wird kein Fußballspiel, sondern eine der leidenschaftlichsten Redeschlachten, die der Deutsche Bundestag je erlebt hat. Es geht um ihre Zukunft, um die Entscheidung, wo Parlament und Regierung des wiedervereinigten Deutschland künftig tagen sollen. Seit Wochen kursieren in Bonn inoffizielle Listen, in die sich Gegner und Befürworter eines Umzugs nach Berlin eintragen können; die Chancen für das 1949 als Provisorium begründete "Bundeshauptstädtchen" scheinen gut zu stehen.

Eine Entscheidung für Bonn, argumentieren die Umzugsgegner um Arbeitsminister Norbert Blüm, bringe den Willen zur Kontinuität der friedliebenden Bundesrepublik und eine Absage an Großmachtträume zum Ausdruck. Schließlich, so Blüm, habe man sich nicht "zum Deutschen Reich wiedervereinigt". Die Berlin-Befürworter aller Lager, darunter Helmut Kohl, Willy Brandt und Hanns-Dietrich Genscher, fordern dagegen vehement, nach der Einigung nun auch das seit 40 Jahren von allen Parteien credoartig wiederholte Bekenntnis zu Berlin einzulösen.

Fieberhaft erwartete Abstimmung

105 Redner sprechen an jenem 20. Juni 1991 im Bonner Wasserwerk, seit fünf Jahren Ausweichquartier des Bundestags. Quer durch alle Fraktionen argumentieren sie mit Herzblut für den Verbleib am Rhein oder für den Umzug in die frühere Reichshauptstadt an der Spree. Nach zwölf Stunden steht immer noch eine Hundertschaft von Abgeordneten auf der Rednerliste. Die Spannung ist kaum noch zu steigern. Als 104 Abgeordnete auf einen Auftritt verzichten und ihre Reden nur zu Protokoll geben, kann die fieberhaft erwartete Abstimmung endlich stattfinden.

Um 21.47 Uhr verkündet Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth das Ergebnis: "Für den Antrag 'Bundesstaatslösung' – 'Bonn-Antrag': 320 Stimmen. Für den Antrag 'Vollendung der Einheit Deutschlands' – 'Berlin-Antrag': 337 Stimmen … Das Ergebnis ist zu respektieren und bindet uns … und jetzt wird gefeiert!" Während sich im Plenarsaal heftiger Applaus und Pfiffe mischen, ist den Menschen auf dem Bonner Marktplatz nicht nach Feiern zumute. Viele sind konsterniert, haben Tränen in den Augen. Wie sie empfindet auch Fernsehjournalist Wolfgang Herles, damals Chef des Bonner ZDF-Studios – kein Rheinländer, sondern Bayer: "Es war der schrecklichste Tag in meiner ganzen Bonner Zeit."

Großzügige Zusagen an Bonn

Ausschlaggebend für das knappe Pro-Berlin-Votum ist nach Ansicht vieler Beobachter der Auftritt des kaum vom Attentat genesenen Wolfgang Schäuble. Der im Rollstuhl vorgetragene Berlin-Appell des Bundesinnenministers gehört zu den herausragendsten Reden der gesamten Debatte. Zudem macht der Berlin-Antrag unentschiedenen Abgeordneten das Ja zum Umzug durch bedeutende Konzessionen schmackhaft: Bonn soll Ausgleichszahlungen in Milliardenhöhe bekommen und Teile der Regierung behalten.

Bis 1994 ringen beide Seiten um das Berlin/Bonn-Gesetz. Es schreibt fest, dass sechs Ministerien am Rhein bleiben und alle anderen dort Außenstellen unterhalten. Außerdem entstehen durch die Abwicklung des Post-Ministeriums mit Deutscher Post und Telekom zwei Wirtschaftsgiganten, die Bonn 20.000 Arbeitsplätze bescheren.

Stand: 20.06.2011

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