Junge zeigt auf Ball mit Aufdruck zum G8-Schulstart

Stichpunkt

2. August 2001 - Saarland führt verkürzte Gymnasialzeit "G8" ein

"Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein?", fragt Bundespräsident Roman Herzog 1997 in seiner Berliner "Ruck"-Rede. Nach seiner Meinung verbringen deutsche Kinder und Jugendliche zu viele Jahre in Schule und Studium - im Vergleich zu anderen Ländern Europas. "Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten in diesem System verloren gehen", so Herzog, "nicht nur Jahre, in denen sie unserer Wirtschaft verloren gehen." Es seien vielmehr Jahre, die man im Interesse der Jugend als "gestohlene Lebenszeit" bezeichnen müsse. Damit befeuert der Bundespräsident eine Debatte, die schon länger läuft. Kurz nach dem Ende seiner Amtszeit geht Herzogs Wunsch dann in Erfüllung: Das ehemalige Staatsoberhaupt ist als Ehrengast dabei, als am 2. August 2001 im Saarland der erste sogenannte G8-Jahrgang startet. In der Kreisstadt Merzig gibt Herzog in Anwesenheit von Ministerpräsident Peter Müller (CDU) und den neuen Fünftklässlern der beiden örtlichen Gymnasien das Zeichen zum Aufbruch: "Jetzt muss ich in die Hände klatschen, dass es losgeht."

Mehr lernen in weniger Zeit

Was zuvor in neun Jahren gelernt wurde, soll nun - mit Abstrichen - in acht geschafft werden. Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen, dass G8-Schüler in ihrer achtjährigen Gymnasialzeit genauso viele Stunden absolvieren müssen wie ihre Mitschüler in neun Jahren. Da die Oberstufe dreijährig bleiben soll, ballen sich Stoff und Stunden besonders in den ersten Gymnasialjahren. Ausgerechnet während ihrer Pubertät müssen die Schüler besonders viel lernen. Die Anzahl der wöchentlichen Schulstunden steigt auf 34 an. Das geht nicht ohne Nachmittagsunterricht, auf den aber kaum eine Schule eingerichtet ist. Dazu kommen für die Schüler noch die Hausaufgaben.

Das Weg zum Turbo-Abi bleibt nicht ohne Folgen: Erstmals wird im Saarland Förderunterricht an Gymnasien erlaubt. Kinderärzte schlagen Alarm, weil immer mehr Schüler mit Stress-Symptomen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Versagensängsten in ihre Praxen kommen. Musikschulen und Sportvereine klagen über schwindenden Zulauf.

Mehrheit lehnt G8-Reform ab

Trotz dieser Erfahrungen setzt sich die verkürzte Gymnasialzeit auch bundesweit durch. Außer Sachsen und Thüringen, wo die in der DDR üblichen zwölf Schuljahre nie aufgegeben wurden, führen bis zum Schuljahresbeginn 2008/2009 alle Bundesländer "G8" ein. Im Nachhinein müssen jeweils zu volle Lehrpläne ausgedünnt und Kinder von zu viel Hausaufgaben entlastet werden, Schulen werden auf einen Ganztagsbetrieb umgestellt oder zumindest mit Mensen ausgestattet. In NRW gibt die rot-grüne Minderheitsregierung, die die Reform von der christlich-liberalen Vorgängerregierung geerbt hat, den Gymnasien die Möglichkeit, wieder einen neunjährigen Weg zum Abitur anzubieten. Kaum eine Schule will sich jedoch eine erneute arbeitsintensive Umstellung antun.

2010 ermittelt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach, dass sich 71 Prozent der Befragten in den alten Bundesländern eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wünschen. Anstatt Herzog und den G8-Pionieren im Saarland für ein zusätzliches Lebensjahr ohne Schule zu danken, werfen manche Eltern den Politikern nun ihrerseits einen "Zeit-Diebstahl" vor - auf Kosten der Kindheit ihrer Töchter und Söhne.

Stand: 02.08.2011

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