"Wo ist die Mama?" Babys können von "Guckuck"-Spielen nicht genug bekommen: Die Mutter hält sich ein Tuch vor ihr Gesicht und zieht es nach kurzem Warten wieder weg. "Da ist die Mama!" Irgendwann im ersten Lebensjahr lernt das Kind, dass Menschen und Gegenstände auch dann weiter existieren, wenn es sie gerade nicht sieht. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget nennt dies "Objektpermanenz". Das Kind spürt keine Angst mehr, wenn seine Mutter hinter dem Tuch verschwindet, sondern ein lustvolles Kribbeln - und lacht.
Piaget beschäftigt sich zeitlebens mit der Frage, wie sich bei Kindern das Denken entwickelt. Piaget-Schüler und Philosophieprofessor Reto Luzius Fetz erläutert Piagets Grundidee: "Ein Kind ist erkenntnismäßig nicht ein kleiner Erwachsener." Kinder lernen eigenständig - indem sie die Welt entdecken und dabei logische Strukturen ausbilden. "Das Kind ist der Konstrukteur seiner eigenen Erkenntnismittel", so Fetz. Dahinter stecke ein "ungeheuer kreatives Menschenbild". Anders als auf Computer-Festplatten gibt es in Kinder-Gehirnen demnach keine fertigen Programme, die man einfach nur starten muss. Sondern jedes Kind muss sie gewissermaßen selbst schreiben.
Erkenntnis durch Beobachtung
"Die wichtigsten Erkenntnisse seiner Theorie verdankt er nur drei Kindern", sagt Fetz, "und das sind seine eigenen!" Dabei kümmert sich Piaget allerdings nicht um die praktische Pädagogik, sondern vor allem um sein Lebenswerk - das schließlich 25.000 Seiten umfasst. "Für die Erziehung war meine Frau zuständig - ich habe die Kinder vor allem beobachtet", sagt Piaget rückblickend. Für ihn, der am 9. August 1896 als Sohn eines gewissenhaften Literaturprofessors und einer psychisch labilen Mutter in Neuchâtel geboren wurde, ist Beobachten seit seiner eigenen Kindheit eine Lieblingstätigkeit. Bereits mit zehn Jahren schreibt er seine erste wissenschaftliche Abhandlung über einen Spatz, später werden Teichschnecken sein Spezialgebiet. Bereits vor dem Studium wird Piaget zur wissenschaftlichen Kapazität.
An der Universität schreibt sich Piaget für Biologie ein - trotz seiner heimlichen Leidenschaft für die Philosophie. Als er eine Anfrage zur Ausarbeitung eines Intelligenztests für Kinder erhält, erkennt Piaget darin die Chance, seine biologischen und erkenntnistheoretischen Interessen verbinden zu können. So wird Piaget Entwicklungspsychologe und entwickelt eine Stufentheorie zur kindlichen Entwicklung. Diese vollzieht sich demnach in Stufen, die aufeinander aufbauen. Wobei das Kind auf jeder neuen Ebene jeweils aktiv seine eigene Perspektive erweitern muss.
Schüler sollen mitentscheiden
Ab 1945 berät Piaget die UNESCO, die Erziehungsorganisation der gerade gegründeten Vereinten Nationen. "Alles, was man dem Kinde beibringt, kann es selbst nicht entdecken", ist sein pädagogisches Credo. Der sogenannte Nürnberger Trichter, der das Eintrichtern von Lerninhalten symbolisiert, gehöre ausgemustert. Stattdessen plädiert Piaget für autonome Schulen, in denen Schüler selbst mitentscheiden, was sie wann lernen sollen. In Lateinamerika werden zwar Piaget-Schulen gegründet, mit der praktischen Anwendung seiner Erkenntnisse hat Piaget aber nichts zu tun. 1955 gründet er stattdessen in Genf das wissenschaftliche Zentrum für genetische Erkenntnistheorie.
Piaget, der als Vater der Entwicklungspsychologie gilt, bewahrt sich auch als Erwachsener seine kindlichen Seiten. Noch als 80-Jähriger soll er in seiner Hosentasche Bindfäden, Taschenmesser und Regenwürmer mit sich herumgetragen haben. Piaget stirbt am 16. September 1980 in Genf.
Stand: 09.08.2011
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